Prolog

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Blut.
Es war überall. Auf ihren Füßen, auf ihrem Kleid, auf dem kleinen süßen, grauen Teddybären mit den rosa Ohren und der rosa Nase, den sie so fest an den Körper gepresst hielt. Sie konnte nicht älter als zehn sein oder sogar noch jünger, dafür waren ihre Züge zu rundlich, ihr Kopf ein wenig zu groß und die riesigen Augen zu eindrucksvoll. Leer aber waren sie nicht. Selene wusste, dass es nicht unbedingt nur ein Filmklischee war, dass Leichen nach einer gewissen Zeit einen grauen Schimmer über die Augen bekamen. Das lag an den Farbrezeptoren die sich langsam abbauten – so oder so ähnlich hatte sie es sich zumindest mal sagen lassen. Ob es stimmte war allerdings egal, denn die Augen dieses Mädchens waren weit aufgerissen und so glasklar, als würden sie jeden Moment blinzeln.
Selene rief ein weiteres Foto auf, eines das sie extra bestellt hatte. Eine Nahaufnahme ihres Gesichtes und vor allem ihrer Augen. So klar, so ohne jegliche Emotion und so komplett ohne etwas in ihr auszulösen. Nichts. Keine Silhouette, kein Gesicht, kein Hinweis darauf, wer ihr das angetan hatte.
Keuchend schob Selene ihr Gesicht wieder etwas weiter von dem Bildschirm weg, auf dem sie die Tatortfotos aufgerufen hatte, schob die Datei in dem Papierkorb und löschte sie endgültig, bevor sie mit dem Courser zurück in den Chat klickte und anfing zu schreiben.
>>Ihre Augen waren verbunden.<<, stand nun hinter einer grünen Schrift die Selene als „Alice" auswies. Im Chat war es lange ruhig. Dann:
>>Es gibt keine Fesselspuren.<<
Dass dieser Mann aber auch immer alles in Frage stellen musste, was sie ihm als Hilfestellung gab und auch immer bemüht schien, ihr jede nicht absolut notwendige Information vorzuenthalten. Sie seufzte und tippte wieder:
>>Suchen Sie besser.<<
Dem Mädchen waren die Augen verbunden worden, also auch die Hände und Füße, alles andere machte keinen Sinn. Es gab nicht die geringste Chance, dass sie sich irrte, denn wären die Augen des Kindes nicht verschlossen gewesen, hätte Selene die gesamte Tat noch einmal gesehen. Inklusive des Gesichts ihres Mörders. Keine wirklich angenehme Gabe, aber eine die ihr sehr viel Geld einbrachte und dafür sorgte, dass sie das Gefühl hatte etwas zu bewegen.
>>Ich melde mich wieder.<<, erklang es im Chat und Selene schlug den Bildschirm ihres Laptops auf die Tastatur.
„Arschloch!", entfuhr es ihr. Es war kein Geheimnis, dass sie Agent Ethan McAllen alles andere als sympathisch fand. Nicht, dass er ihr jemals seinen Namen verraten hätte, immer wenn er den verschlüsselten Chat benutzte, um mit dem mysteriösen Informanten „Alice" zu kommunizieren, war er einfach unter „Agent" angemeldet. Doch Selene wusste sehr gut, wen sie da vor sich hatte.
Ethan McAllan, dreiunddreißig Jahre alt und einer dieser ständig grimmig dreinblickenden, großen, bösen Agenten, die Autorität, Kraft und vielleicht ein bisschen Gefahr ausstrahlten. Dazu kam ein attraktives, kantiges und stehst unfreundliches Gesicht, das sicher Anfang und Ende jeder seiner flüchtigen Beziehungen erklärte. Er war der Typ Mann, bei dem die Frauen dem Irrglauben erlagen, sie könnten ihm zähmen. Doch aus diesem Grizzly würde niemals ein Kuschelbär werden, da war sich Selene sicher.
Sie runzelte die Stirn und fragte sich, warum ausgerechnet sie an solch einen Mann geraten musste, dann fiel ihr wieder diese Vision ein, die sie seit dem Tag ihres fünfzehnten Geburtstags verfolgte. Sie in den Armen dieses Mannes, der nicht nur genau das Gegenteil von ihrem neckischen, hellen Gemüt war, sondern auch noch zwölf Jahre älter.
Ihre Großmutter hatte ihr gesagt, dass sie die Prophezeiung ernst nehmen müsse und ihrem Schicksal nicht entkommen konnte. Schließlich passierte das jedem Orakel irgendwann. Bis jetzt aber, obwohl das Schicksal ihn tatsächlich zumindest digital in ihr Leben katapultiert hatte, war es ihr erfolgreich gelungen, ihm nicht zu begegnen.
Sie mochte ihn nicht. Und den Mann, den ihr das Schicksal so unfassbar ungerecht aufdrücken würde, nicht zu mögen, war keine gute Voraussetzung für eine liebende Partnerschaft. Aber von Liebe schien Carmenta allgemein nichts zu verstehen. Carmenta war die Göttin der Weissagung und der Geburt, nicht die des Glücks oder der Liebe. Und ihren Orakeln diese eine besondere Vision zu schenken, erfüllte auch nicht den Zweck sie glücklich zu machen, sondern den, ein Kind zu zeugen, das ebenfalls eine Macht der Weissagung besaß.
Das Glück daraus würde sie sich selbst erarbeiten müssen und in Selenes Fall bedeutete dies, dass sie sich irgendwann einen Mann suchen würde, der wirklich zu ihr passte. Es war sowieso nie ratsam berufliches und privates miteinander zu verbinden. Nicht dass sie tatsächlich vom FBI Geld bekommen würde, für die Hinweise die sie ihnen gab. Ihr Geld verdiente sie mit der eher lebendigen Sorte von Männer oder mit deren Frauen, die sie über ihre Internetseite kontaktierten um herauszufinden, ob ihr Ehemann oder Freund treu waren oder nicht.
Ein Foto bei denen die Augen des Verdächtigen zu sehen waren, genügte dafür völlig, obwohl Selene wesentlich mehr in den Augen lesen konnte, wenn sie eine reale Person vor sich hatte, doch bei ihrer Geldeinbringenden Tätigkeit war dies nicht notwendig und bei ihrem Hobby, dem FBI unter die Arme zu greifen, nicht ratsam.
An grausige Fotos war sie gewöhnt, genauso wie an charmant lächelnden Männer, die ihre Frauen hintergingen. Woran sie sich nie gewöhnen würde, waren Leichen. Sie war nur ein einziges Mal im selben Raum mit einem Toten gewesen. Ihrer Großmutter, als sie diese in ihrem Haus tot aufgefunden hatte, mit einem Messer in der Brust und herausgerissenen Augen.
Ein brutaler Mord, das Werk eines verbitterten Kunden, aber nichts wobei Selene helfen konnte. Ohne Augen, keine Visionen. Aber das war auch nicht nötig gewesen, der Mann der psychisch instabil gewesen war und sich bis heute einbildete, die Augen von Hanna James würden ihn verfolgen, war nur Stunden danach verhaftet worden.
Ihre Großmutter war Kartenlegerin gewesen und hatte ihm irgendwas geweissagt, was ihm nicht gefallen hatte. So einfach, so simpel und doch so zerstörerisch. Und so lange her. Selene spürte den kalten Stich, als sie an den Tod ihrer Großmutter dachte, verfiel aber nicht in einen ihrer Heulkrämpfe, wie sie es kurz danach immer wieder getan hatte. Man lernte eben damit zu leben und Selene hatte ihre Therapie darin entdeckt, den immer mal wieder auf der Stelle tretenden Behörden zu helfen.
Sie konnte zwar nicht in die Zukunft sehen, wie ihre Großmutter, wohl aber in die Vergangenheit. So sehr sie sich auch wünschte, die Gabe des Orakels hätte sie übersprungen, wie ihren verstorbenen Vater, es war nicht dazu gekommen. Sie hatte ihn nie kennengelernt dürfen, ihren Vater, er war Soldat gewesen und hatte sich trotz der Warnungen seiner Mutter freiwillig für einen Auftrag in Afghanistan gemeldet. Er war nie heimgekehrt. Ihre Mutter war so überfordert mit ihrer Tochter und ihrer eigenen Trauer gewesen, dass sie Selene zu Hanna abgeschoben hatte. Als Dorma James ihr Kind Jahre später wieder zurück verlangte, hatten sich in Selene bereits die ersten Anzeichen ihrer Gabe gezeigt und Hanna hatte entschieden, dass das Kind lieber bei ihr aufwachsen sollte. Ihre Großmutter war immer sehr überzeugend gewesen.
Momentan hielt Selene nur spärlichen Kontakt zu ihrer Mutter, die neu geheiratet und auch wieder Kinder bekommen hatte. Es tat nicht weh, ersetzt worden zu sein, nicht wirklich zumindest. Denn die Wahrheit war, dass Selene nie etwas in der Obhut ihrer Großmutter vermisst hatte.
„Carmenta Hilf", flehte sie hinauf zu ihrer Zimmerdecke, als ein Piepsen des Computers sie aus ihren Gedanken holte. Auf ihrem Konto waren fünftausend Dollar eingegangen. Ein Honorar, dass sie laut Vereinbarung nur erhielt, wenn sie mit ihrer Aussage über einen der untreuen Männer recht behalten hatte. Abgesichert durch eine Kanzlei, die sie vertrat. Sie grinste, als sie den Namen der Frau las. Eine ältere Dame, die Selene für verrückt erklärt hatte, als sie meinte ihr dreißig Jahre jüngerer Ehemann betrüge sie mit ihrer eigenen Tochter aus erster Ehe.
„Autsch, das hatte sicher wehgetan", flüsterte sie leicht schadenfroh. Selene liebte es recht zu haben und zeigte wenig Mitgefühl mit der Frau, sie hatte ihre Augen ebenfalls gesehen. Sie hatte wesentlich mehr Seitensprünge zu verzeichnen, als ihr Loverboy.
Doch das Lächeln verging ihr, als der FBI-Chat sich wieder öffnete.
>>Danke. Fall gelöst.<< Mehr nicht. Keine Erklärung.
„Arschloch", wiederholte Selene ihre Worte von vorhin. Ethan McAllen sagte weder, was seine Kollegen nach ihrem Hinweis gefunden hatten, noch wer der Mörder war, dabei war Selene doch von Natur aus neugierig u d das nervte sie tierisch. Dennoch war Agent McAllen immer sehr darauf bedacht, ihr nur so viele Informationen zu geben, wie Selene brauchte um den FBI zu helfen – und selbst die nur widerwillig.
Gereizt tippte Selene drauf los. Zum Glück hatte sie ihre eigene Methode um ihn dafür büßen zu lassen und die bestand aus einem aktuellen Bild von ihm auf ihrer Schnellzugriffsleiste. Er regte sich immer so schön auf, wenn sie ihn mit Dingen aufzog, die sie eigentlich nicht wissen konnte. Seine Geheimnisse zu kennen, ohne zu wissen, woher sie die Informationen hatte, machte ihn wahnsinnig. Ein bösartiges Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie auf Enter drückte.
>>Gern geschehen. Leider konnte ich Clarissa nicht davon abzuhalten zu gehen. Tut mir wirklich leid, Agent McAllan.<<  

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Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now