Bedrängt

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Kapitel 14
„Ein Hotel würde sich nicht lohnen", begann Ethan sobald Selene wieder in seinem Wagen saß und versuchte den Wagen möglichst sanft durch den nächtlichen Verkehr zu lenken. Trotz ihres kurzen Geplänkels von vorhin, von dem sie immer noch ein Lächeln auf den Lippen trug, wirkte sie alles andere als glücklich. Und niemand würde ihr das wohl verübeln können. Sie war eine Fremde in dieser Stadt. War dazu gezwungen Männern zu vertrauen, die sie nicht kannte und war ein gebrandmarktes Kind, wenn es um offizielle Behörden ging. Sie brachte denkbar schlechte Voraussetzungen mit sich und dennoch war sie hier, lehnte sich in dem Beifahrersitz zurück und schloss die Augen, während sie die richtigen Fragen stellte. Ihr wacher Geist faszinierte ihn.
„Warum?"
„Wir werden morgen Mittag nach NewHollow aufbrechen, schätze ich. Wir können es uns nicht leisten noch mehr Zeit zu verschwenden. Sich für nicht mal zwölf Stunden ein Hotelzimmer zu suchen, halte ich für ineffektiv", vor allem aber hielt er es für gewagt. Ein verdammter Killer war hinter ihr her, er hatte herausbekommen, dass sie Alice ist und wo sie wohnte. Ethan war nicht so naiv zu denken, dieser Jemand wüsste nicht, dass sie gerade hier in seinem Wagen saß.
Selene betrachtete ihn unter schwer gewordenen Liedern. Ihre grünen Augen hatten den Glanz schon fast vollständig verloren. Diese Frau brauchte ein Bett und zwar schnell. Als sie nichts darauf erwiderte, entschloss er sich auch dazu das offensichtliche anzusprechen.
„Du bist nicht dazu in der Lage zu fahren, du brauchst Schlaf und vor allem einen Ort, an dem du sicher bist."
„Schlagen Sie mir deshalb vor, bei Ihnen zu übernachten, Agent McAllan?", erwiderte sie starrsinnig. Natürlich wusste sie worauf er anspielte. Sie wusste bereits viel zu viel und wenn nicht bald jemand begann auf sie aufzupassen, würde ihr das eines Tages ihren hübschen Kopf kosten.
„Ich schlafe selbstverständlich auf der Couch und ich werde Ihnen auch nicht zu nahe treten, wenn Sie das befürchten, Miss James." Seine Stimme klang beleidigt, daran konnte er nichts ändern. Sanftheit gehörte nicht zu seinen Stärken und Verständnis auch nicht unbedingt. Ja, sie kannte ihn nicht, aber alleine die indirekte Anspielung er könnte seine Position dazu benutzen sich einer Frau aufzuzwingen machte ihn sauer. Selbst wenn sie keinen Grund hatte das Gegenteil anzunehmen.
Selene runzelte zweifelnd die Stirn. Warum auch nicht? Er hatte bei ihrer ersten Begegnung sehr deutlich gemacht, dass er an ihr interessiert war und daran hatte sich bis jetzt Nichts geändert.
„Okay", meinte Selene nur schwach und kraftlos. Sie lehnte ihren Kopf an die Scheibe seines Wagens und sah dabei so verletzlich und hilflos aus, dass etwas in Ethan erwachte und sie unbedingt beschützen wollte. Es war chauvinistisch anzunehmen, dass Frauen immer schwächer waren als Männer und Schutz brauchten. Aber er machte diesen Job bereits zu lange um die Tatsache zu ignorieren, dass es hauptsächlich Frauen waren, die zu Opfern wurden. Und zwar sehr viel öfter als Männer. Frauenrechtler wollten das nicht hören, aber Frauen waren in der Regel bei weitem nicht so aggressiv wie Männer und deshalb öfter in Situationen, aus denen sie sich nicht allein befreien konnten. Das laut auszusprechen war kein Versuch Frauen als schwaches Geschlecht hinzustellen. Es hatte nichts mit Schwäche zu tun um Hilfe bitten zu müssen. Das hatte ihn geprägt. Ob es nun sexistisch war oder nicht: Als Mann war es seine Pflicht zu beschützen und als Polizist nun einmal sein verdammter Job.
Selene war nicht schwach. Das Leben war nicht fair zu ihr gewesen und sie war dennoch eine taffe junge Frau geworden, die einen Mann wie ihm die Stirn bot. Doch das bedeutete nicht, dass sie keinen Schutz brauchte, das wusste sie selbst nur allzu gut. Sonst wäre sie nicht hier.
Als der Wagen endlich vor seiner Wohnung hielt, war Selene längst eingeschlafen und hatte sich so eng in ihre dünne Jacke zusammengerollt, als würde sie sich vor der Welt verstecken wollen. Ethan streckte die Hand aus, zog sie aber sofort wieder zurück. Er wollte sie nicht wecken, sie hatte einen toten Jungen vor ihrem Haus gefunden, war mitten in der Nacht durch einen ganzen Bundesstaat geflohen und war Stunden später hier gewesen, um ihn um Hilfe zu bitten. Und das war kein einfaches Unterfangen gewesen.
Er parkte den Wagen und ging zur Beifahrertür, die er so langsam öffnete, dass Selene nicht erschrak. Dennoch wachte sie zu seinem Verdruss auf und blinzelte verwirrt, als sie ihn auf ihrer Seite des Wagens bemerkte.
„Sind wir schon da?", fragte sie verschlafen. Ethan versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. Er hatte nicht vorgehabt sie zu wecken, sie hatte schlafen sollen. Tief und fest, während er sie nach oben trug und in sein Bett legte. Doch im wachen Zustand würde sie das niemals zulassen. Er nickte und Selene rieb sich ihre Augen bevor sie aus dem Wagen stieg und so dicht vor ihm stehen blieb, dass sie ihre Hand auf seine Brust legen und ihn ein Stück beiseiteschieben musste.
„Sie sind aufdringlich, Agent McAllan", meinte sie verschlafen und Ethan konnte es sich nicht verkneifen ihr tief in die glasigen Augen zu sehen und dann einfach zu lächeln. Er wusste selbst nicht was ihn dazu trieb. Sie hatte recht, das hier war aufdringlich und ein verdammt schlechter Zeitpunkt einen Flirt anzufangen. Selene war traumatisiert und der Mittelpunkt seines neusten Falles. Ganz abgesehen davon, dass sie viel zu jung für ihn war. Dennoch, als er zurücktrat um sie endlich vom Wagen wegtreten zu lassen, blieben ihre Finger noch für einige Sekunden auf seinem Oberkörper liegen. So lange, dass er sie fast wieder bedrängt hätte. Aber nur fast.
„Ich hole Ihre Tasche aus Ihrem Wagen, Sie können schon einmal schlafen gehen", murmelte er schlecht gelaunt und hielt ihr den Wohnungsschlüssel entgegen. Sie nahm ihn entgegen und reichte ihm stattdessen ihren Wagenschlüssel, bevor sie sich auf die Haustür zubewegte. Er wartete bis sie die wenigen Schritte unbeschadet überstanden hatte und versuchte nicht daran zu denken, wie gut sich ihre Hand auf seinen Körper anfühlte.

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt