Legenden

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  Kapitel 34
Selene starrte auf die Holzterrasse auf der Rückseite ihres Hauses und wartete geduldig bis Derek wieder aus der Tür herauskam, die mit einem Flatterbändchen versiegelt war. Sie durfte ihr eigenes Haus nicht betreten. Das sollte sie stören, aber wahrscheinlich hätte sie es sowieso nicht fertiggebracht einfach über diesen, ins Holz eingezogen, Blutfleck hinweg zu steigen und das Haus tatsächlich zu betreten.
„Wann wird es wieder freigegeben?", fragte Selene ruhig und obwohl sie ihn nicht ansah, war sie sich Ethans Anwesenheit mehr als bewusst. Er stand bei ihr. So nahe, dass sie nach ihm greifen könnte, wenn ihre Nerven wieder mit ihr durchgingen aber sie blieb ruhig und war sich sicher, hier auch wieder leben zu können wenn das vorbei war. Eine andere Wahl hatte sie auch nicht.
„Morgen früh. Die Spurensicherung ist durch und es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Mörder irgendwo anders als in deinem Garten gewesen ist. Auf den wirst du wohl noch eine Weile verzichten müssen", erklärte er und Selene warf einen Blick über ihre Schultern zu Lindsey Hall, die sich selbst ein Bild von ihrem Heim machen wollte. Selene wusste nicht was sie davon halten sollte die FBI-Agentin hier herumschnüffeln zu lassen, aber sie konnte nichts dagegen tun.
Derek kam aus dem Haus, klebte das Siegel wieder an und reichte Selene eine kleine Reisetasche und vor allem die Stiefel um die Selene gebeten hatte. Sie war mit ziemlich wenig aufgebrochen und braucht dringend Sachen, die für eine Wanderung durch den Wald geeignet waren.
Die Gruppe, die zu den Ruinen der ursprünglichen Siedlung Hollow aufbrechen würde, war nicht groß. Zu Selenes erstaunen hatte Lindsey darauf verzichtet, Leute von der Spurensicherung anzuheuern die sie begleiten würden. Sie wussten ja selbst noch nicht, was oder ob sie etwas finden würden. Bobby, alias Agent Adriano Levis, würde in dem Büro bleiben das Lindsey eingerichtet hatte und mit ihnen über Funk und GPS in Verbindung bleiben um ihnen notfalls aus dem Wald herauszuhelfen und ihren Standort zu bestimmen.

Ethan, Lindsey und Derek gingen absolut kein Risiko ein. Alle waren sie in voller Montur zu dieser kleinen Wanderung aufgebrochen. Schusssichere Westen und dicke Jacken auf dessen Rücken groß FBI abgedruckt war. Selbst Selene war mit einem solch unförmigen Outfit eingekleidet worden, das einzige was ihr nun noch fehlte waren ihre Boots.
„Wie weit kommen wir mit den Wagen in den Wald?", fragte Derek als sie alle zu den kleinen Geländewagen gingen in denen sich ihre Rucksäcke befanden. Selene hatte ihnen zwar erklärt, dass der Weg dahin maximal eine Stunde dauern würde, aber Ethan und seine Leute wollten auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Taschenlampen, ein kleines Set um Spuren zu sichern und nicht zuletzt ein mobiler Sender um den Kontakt mit Bobby wieder herstellen zu können.
„Etwa noch einen Kilometer, ab dann müssen wir zu Fuß weiter. Die Forstarbeiter hören am Ende meines Grundstückes mit der Waldarbeit auf und das Unterholz und die dichte Bewaldung machen es unmöglich, dort hineinzufahren. Es gibt einen kleinen Trampelpfad, der neben einem kleinen Ausläufer des Hauptflusses entlangführt. Ihn folgen wir weiter Richtung Osten, tiefer in den Giants-Forrest hinein", erklärte Selene so gut wie möglich, während sie sich im Stehen die Turnschuhe aus und die Bots anzog. Ethan hielt dabei ihren Arm fest.
Lindsey kam zu ihnen, hatte ihre Runde anscheinend beendet und tippte die digitale Karte auf ihrem Tablett durch, die Dean oder Carsten ihr Geschickt haben müssen.
„Hier ist kein Nebenfluss eingezeichnet," sagte sie und während Selene ihre Turnschuhe in der Reisetasche verstaut, erklang Deans Stimme in dem kleinen Knopf in ihrem Ohr.
„Weil dit' Ding seit zweihundert Jahren nicht mehr aktualisiert wurde. Die Karte is' eigentlich nicht zu gebrauchen," schmatze er durch die Leitung und aß offensichtlich nebenbei irgendetwas.
„Is' eigentlich ein Wunder, das ich euch überhaupt empfange. Von Quantico bis in diese Pampa is'es echt verzwickt mit den Funklöchern", gab er weiter und Selene verkniff sich das kleine Detail, dass sie zumindest um ihr Hus herum wirklich hervorragenden Empfang hatten, ihren privaten Sendemasten sei Dank.„Wir halten Kontakt solange wir können, kannst du über Satellit irgendetwas erkennen?", fragte Ethan und half Selene beim Einsteigen in den Jeep, während Derek sich vor das Steuer setzte.
„Nah' .Carsten is' noch dabei diese Anfrage auf Zugriff zu stellen aber du west' ja wie die Luftwaffe sich hat, wenn wir mal den Satelliten brauchen." Stichwort: Bürokratie. Selene hatte noch nie verstanden, warum die verschiedenen Ministerien sich gegenseitig so sehr misstrauten und auf Zuständigkeiten pochten.
„Ich könnte mich reinhacken!", schon Dean in seinem jugendlichen Leichtsinn hinterher und Ethan kam gar nicht dazu ihm die Leviten zu lesen, da Sprang Carsten auch schon darauf an.
„Und deine Strafe um ein weiteres Jahrzehnt verlängern? Man sollte meinen, du würdest dazu lernen. Willst du wieder eine Fußfessel tragen?" Darauf schnaubte Dean lediglich. „Wenn ich an Alice fest gekettet werde, bin ich dabei", gab er an und verfiel in eine fast träumerische Stimmung die nicht zu überhören war. Während Selene kurz errötete, starrten Lindsey und Derek ganz automatisch zu Ethan, als würden sie erwarten er würde sich in ein Monster verwandeln und den jungen Mann am anderen Ende der Leitung die Leviten lesen. Aber es kam nichts. Dabei war er doch sonst auch immer schnell eifersüchtig. Kurz wunderte sich Selene und verfiel dem gewohnten Gedanken, dass Ethans Interesse abflauen könnte, aber da lachte Carsten schon lauthals auf und gab die Erklärung.
„Das würde deinem Suggar-Daddy aber nicht gefallen, Dean. Was willst du mit einer Frau überhaupt anfangen?"
„Ich will Kinder mit ihrem Verstand machen, nicht mit ihrem Körper. Sorry Süße aber du hast obenrum zu viel und untenrum zu wenig. Aber dein Verstand ist mega-sexy."
So überraschend wie diese neue Information war: Dean war homosexuell und hatte offenbar einen älteren Liebhaber, so geschmeichelt fühlte sie sich auch. Nie hatte ihr ein Mann gesagt, dass er ihren Verstand „sexy" fand und das so absolut getrennt von ihrem Äußeren.
„Das war das schönste Kompliment, das ein Mädchen sich wünschen kann, Dean", sagte sie ehrlich und sah zu Ethan der sie ebenfalls angrinste, während Lindsey durch den Rückspiegel mit den Lippen die Worte: „Du wusstest das?" formte und Ethan damit noch breiter zum Grinsen brachte. Die Offenbarung schien zumindest für Derek und Lindsey neu zu sein.
Doch die heitere Stimmung wurde getrübt, als der Wagen anhielt und sie sich dem dichten Wald gegenüber fanden.
„So Kinder, ab hier ist dann wohl Wandertag angesagt," entfuhr es Lindsey und alle verließen das klobige Gefährt. Derek verteilte einige Rucksäcke, sah aber davon ab Lindsey oder Selene etwas von der Ausrüstung aufzubürden.
„Wir brauchen definitiv Taschenlampen", erklärte Selene ruhig. Sie selbst war seit Jahren nicht mehr hier gewesen.
„Wir haben noch fünf Stunden bis die Sonne untergeht, ist der Wald so dicht?", fragte Ethan überrascht und Selene nickte.
„Stellenweise, ja." Im vollsten Vertrauen auf ihre Einschätzung teilte Derek Taschenlampen aus und bildete die Nachhut während Ethan voraus ging, die Frauen in der Mitte. Eine Weile horchten sie den eifrigen Gesang der Vögel, der immer weiter verstummte. Das war nichts Ungewöhnliches. Man behauptete zwar immer der Wald sei laut, aber tatsächlich war es nicht ungewöhnliches, dass die Häufigkeit der Tiere in der Mitte des Waldes abnahm. Gerade Vögel und Insekten hielten sich in den Randgebieten auf.„Hier gibt es aber keine Bären oder so, oder?", fragte Derek als wäre ihm das erst jetzt eingefallen. Selene lächelte ihn tapfer an. „Nein, nur Füchse und die ein oder andere Wildkatze. Der Giant-Forest ist vor allem genau dafür bekannt: Seine Gigants. Seine großen und uralten Bäume. Im Zentrum der alten Siedlung steht befindet sich einer davon: eine uralte Eiche die angeblich bereits tausend Jahre da steht." Erklärte sie und es war merkwürdig all diese Dinge Leuten zu erzählen, die hier nicht aufgewachsen waren.
„Was ist das eigentlich für eine furchtbare Geschichte um die alte Siedlung? Warum glaubt man, dass es da spukt?" Das war Lindsey und ihre uneingeschränkte Neugierde. Kurz dachte Selene darüber nach, ob sie dir Geschichte tatsächlich erzählen sollte, dann aber fiel ihr ein, dass sie hier keine naiven Teenager vor sich hatte und keiner der drei Agenten aufgrund von Geschichten den Rückweg antreten würde.
Ethan hielt an und stieg über einen massiven Baumstamm der mitten auf dem kleinen, halb überwucherten Trampelpfad lag. Der Stamm war so riesig, das Ethan ihr die Hand reichte als sie darüber kletterte. Beim Umfallen hatte der Baum eine tiefe Schneise durch den Wald gezogen und Selene konnte nach einigen Minuten wieder den Himmel sehen. Von der strahlenden Nachmittagssonne war hier kaum noch etwas zu erkennen.
„Ähm, naja. Die ersten Siedler lebten eigentlich am Fuße des Hauptflusses. Sie waren auf Lebensmittellieferungen angewiesen und als einmal ein harter Winter kam und der Fluss komplett zufror, überlebten viele nicht. Angeblich nutzten das die hier lebenden Indianerstämme aus und holten sich ihr Land mit Gewalt zurück. Ein Großteil der Siedler flüchteten tiefer in den Wald zurück und bauten dort Hollow. Aber die Siedlung hielt auch nicht lange. Man weiß nicht genau warum, aber die Leute fingen angeblich an durchzudrehen. Man spricht von Mord und Kannibalismus, selbst an den eigenen Kindern. Solange bis sie wieder ihre Sachen packten und weiterzogen. Am anderen Ende des Waldes gründeten die überlebenden Familien NewHollow. Das ist die offizielle und unausgeschmückte Version." Erklärte Selene, ergriff wieder einmal Ethans Hand und er half ihr über einige Äste hinweg.
„Wie lautet die inoffizielle?", fragte Ethan und Selene wunderte sich, dass er sich für solche Geschichten interessierte.
„Kommt darauf an, welche Version ihr hören wollt. Die meist verbreitetste ist die von Harald Lindow, ein englischer Priester, der die Kolonie anführte. Er hatte angebliche eine geheime Mission, die etwas mit dem Wald zu tun hatte. Es war angeblich nie geplant am Fuße des Flusses eine Siedlung aufzuschlagen, sondern im Wald. Was, wie jeder Historiker mir bestätigen würde, Blödsinn ist da die meisten Siedlungen an Flüssen errichtet worden und das sehr bewusst. Diese Theorie wird vor allem darauf gestützt, dass man kein Saatgut dabei hatte das für das Schwemmland, nahe eines Flusses geeignet war, was letztendlich die Abhängigkeit von der Schifffahrt und die Hungersnot begründete. Viel wahrscheinlicher ist es aber, dass man es bei der Organisation einfach versaut hatte. Na ja, zumindest wollte dieser Priester seine Gemeinde in diesem Wald gründen, aber einige anderen Familien weigerten sich, vor allem die nicht christlich geprägten Einwanderer."
„Wie deine Familie und die Hollows?", fragte Lindsey und Selene nickte.
„Ja, meine Vorfahren und die Litts, das ist die dritte Gründerfamilie die damals noch existierte, weigerten sich. Ein Teil der Hollows waren während der Überfahrt aber zum Christentum konvertiert. Angeblich zumindest. Aber die andere Hälfte der Familie weigerte sich dennoch in den Wald zu gehen. Es gingen damals schon Gerüchte von Geistern umher. Die Siedler spalteten sich also auf. Am Fluss war es unmöglich zu Leben, also machten auch die zurückgebliebenen Familien sich auf die Suche nach einem Ort wo sie Landwirtschaft betreiben konnten und zogen um den Wald herum, da wo heute NewHollow ist. Während die anderen im Wald Zuflucht suchten und dort, so will es die Legende, hat die Zeit sie verschlungen."
Lindsey horchte auf und drückt sich unter einem Ast hindurch. „Von der Zeit verschlungen?", fragte sie skeptisch und Selene konnte dieser Skepsis nur zustimmen.
„Naja, bestätigt ist zumindest, dass nicht mal ein Jahr nach der Gründung von NewHollow, die Siedlung hieß damals anders, eine Expedition aufbrauch um nach den anderen Siedlern zu suchen. Sie fanden nichts weiter als die Ruinen die wir noch heute dort finden, was merkwürdig war, denn schließlich fanden sie stabile Fundamente, ausgehobene und verstärkte Keller, einen gemauerten Brunnen und sogar einen Friedhof mit Jahreszahlen auf den Grabsteinen, die so einfach nicht stimmen konnten. Nichts, was man innerhalb von nur wenigen Monaten errichten konnte. Es schien als seinen Jahrzehnten vergangen aber keine Spur von irgendwelchen Bewohnern."Und sie waren sich sicher, die richtige Siedlung gefunden zu haben?", fragte Lindsey.
„Ja, die Siedlung trug ein Schild auf dem Hollow stand. Die restliche Hollow-Familie war über den Verlust ihrer Angehörigen und Freunde so erschüttert, dass sie baten ihre eigene Siedlung, die erfolgreiche, in NewHollow umzubenennen. Gesagt, getan."
Eine Weile war alles Still und obwohl der letzte Teil merkwürdig war, schien er doch merkwürdig Trivial. Als Kind fand Selene die Geschichte gruselig. Aber wenn sie sie jetzt erzählte, dann nicht mehr so ganz. Sie war merkwürdig, das war alles.
„Und bevor ihr fragt: Nein, es gibt keinen Friedhof mit merkwürdigen Jahreszahlen und einen gemauerten Brunnen, für den man alleine Jahrzehnte gebraucht hätte. Die Leute lebten eine Weile in Hollow, vielleicht ein paar Jahre und zogen dann weiter. So einfach, so unspektakulär."
„Lässt sich leicht nachprüfen", entfuhr es Derek und Selene sah ihn verdutzt an. Ach ja, tat es dass? Er blinzelte und beantwortete ihre unausgesprochene Frage.
„Wenn die Gruppe sich aufgeteilt hat und nur eine davon christlich geprägt war, hat auch nur eine der Siedlung eine Kirche. Das ist das erste Gebäude, das in der Gründerzeit errichtet wurde. Haben die Hollow Ruinen eine Kirche?"
„Ich glaube schon, ja. Aber ...," erwiderte Selene.
„Was ist mit NewHollow? Wenn sie tatsächlich einfach weitergezogen waren und mit ihnen das Christentum im Schlepptau, müsste die Kirche auch das älteste Gebäude in NewHollow sein." Selene blieb stehen. Er hatte recht, es müsste eine Kirche geben, die älter war, so alt wie Stadt selbst.
„Selene?", fragte Lindsey sie und Selene holte tief Luft. „Die erste Kirche ist erst vor ungefähr hundert Jahren errichtet worden, weil die christliche Gemeinschaft so groß geworden war." Also nein, in NewHollow hatte es keine Kirche gegeben, was bedeutete, dass die Siedler damals nicht einfach weitergezogen waren. Aus irgendeinem Grund haben ihre Vorfahren es vermieden diesen Wald zu betreten und aus irgendeinem Grund hat dieser Priester auf eine Besiedelung des Waldes bestanden. Aber es gab auch noch hundert andere denkbare Szenarien. Das bewies nur, dass die Nichtchristen die Gemeinschaft verlassen hatten, das war alles. Dennoch spürte sie unweigerlich ein Prickeln in ihrem Nacken.


Beta: MrsGeany

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Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now