wiegende Träume

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 Kapitel 35

Ethan wusste, das er sich umsehen sollte. Er sollte seine Umgebung im Blick behalten, aber wenn er ehrlich zu sich war, waren seine Gedanken einzig und alleine bei der Frau hinter ihm. Selene. Es war fast schon absurd, wie besessen er von ihr war und das in einem Ausmaß, das einfach nicht gesund sein konnte. Es begann schon bei Kleinigkeiten, wie ihrer Frisur. Selene hatte ihre schönen roten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden und Ethan musste sich die ganze Zeit davon abhalten dieses Gefängnis zu lösen und mit beiden Händen hindurch zu gleiten. Es war lächerlich und gerade als er sich dazu zwingen wollte sich auf seinen verdammten Job zu konzentrieren, stolperte sie und er griff hinter sich und hielt unnötigerweise ihren Arm fest. Sie hatte sich längst wieder von selbst gefangen, ein Eingreifen wäre absolut nicht nötig gewesen und dennoch: Er wollte sie berühren und in ihren grünen Augen versinken, während sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen und sein Herz in der Brust laut zu scheppern begann. Als würde jemand in einem Topfschrank ein Konzert veranstalten.

Sie war zutraulicher geworden, fing an ihm zu vertrauen und das gefiel ihm. Aber seine eigene Abhängigkeit wurde ihm langsam aber sicher unangenehm. Er hatte sich noch nie so besitzergreifend gegenüber einer Frau benommen, schon gar nicht, wenn er sie so kurz kannte. Aber Selene selbst schien von einer Sekunde auf die andere durch seine Schilde gedrungen zu sein und hatte sich in seiner Seele eingenistet wie ein Parasit.
Als das Wort durch seinen Kopf geisterte, wurde ihm bewusst, dass er jeden anderen umbringen würde, wenn er sie so bezeichnen würde und verfluchte sich selbst dafür. Das hatte sie nicht verdient und während er immer noch ihren Arm umklammert hielt, kam er sich einmal mehr zu plump und grobschlächtig vor um eine Frau wie sie anfassen zu dürfen.
Aber einer seiner besten Charaktereigenschaften war: Ein riesiges Ego, dass jede Anwandlung von Unsicherheit, wie in diesem Moment, im Keim erstickte. Dann war er eben besessen von ihr, das war in Ordnung. Denn das bedeutete, dass sie ihm gehörte. Punkt.
„Ist das die Brücke?", fragte Lindsey, die einfach an Ethan und Seele vorbeigegangen war, während Ethan und Selen da standen und sich ansahen, als hätte sie der Blitz getroffen. Was Selene wohl in diesem Moment durch den Kopf ging? Sie hatte ihn schon einige Male mit ihrem Blick gefesselt und irgendwie glaubte er, dass in diesem Momenten mehr passierte, doch er konnte es nicht ganz greifen. Das einzige was er mit Sicherheit wusste war, dass er sich danach irgendwie zerrissen fühlte. Als hätte jemand seine Seele auseinandergenommen. Selene blinzelte und als sie die Augen wieder öffnete, waren sie grün... Moment. Das waren sie doch immer, oder nicht? Er wusste es nicht, hatte es vergessen, als sollte er es nicht wissen und wie immer, wenn sie den Blickkontakt abgebrochen hatte, spürte er ein Ziehen in seiner Brust.
Ein wahrhaftiger körperlicher und leichter Schmerz, als hätte ihr Blick daran gezogen. Und nun, da sie es wieder losgelassen hatte, sprang es zurück an seinen Platz. Es war seltsam. War das Liebe? Ethan runzelte die Stirn und entschloss sich auch diese Gedanken beiseite zu schieben. Er musste einen Mörder finden!
Selene folgte Lindseys Blick und nickte.
„Ja. Ich würde sie nicht betreten, sie ist morsch. Aber der Ausläufer, über den den sie führte, ist eh so gut wie ausgetrocknet. Es gibt eine Stelle, an der man das Flussbett einfach betreten kann." Erklärte sie, machte sich von Ethan los und zeigte Lindsey die Stelle. Derek schlug Ethan kurz auf die Schulter als Zeichen, dass er mitkommen sollte und lächelte gutmütig.
„Es hat dich ganz schön erwischt, oder?", fragte der ältere Agent leise und Ethan versuchte seinen neutralen Blick beizubehalten.
„Sie ist eben hübsch, das ist alles", sagte er so beiläufig wie möglich. Dereks Lächeln wurde breiter. Der Agent war nie ein Plappermaul gewesen und aufgrund seiner ruhigen und besonnenen Art, vergaß man ab und an, dass er überhaupt da war. In seinem Job war das Gold wert, denn dadurch sah und hörte er mehr als Andere.
„Nein, nicht nur. Ich kann es nicht beschreiben, aber ich glaube Lindsey spürt es auch. Sonst würde sie inbrünstig versuchen dem ein Ende zu setzen: Es ist so ... selbstverständlich bei euch. Als wärt ihr bereits ein Paar."
Ethan ließ die Worte auf sich eine Weile wirken und schüttelte dann den Kopf.
„Wir haben wichtigeres zu tun", brummte er und folgte den Frauen zu dem ausgetrockneten Flussbett, das noch sumpfigere Stellen beinhaltete, ansonsten aber tatsächlich normal betreten werden konnte. Als alle auf der kleinen Halbinsel angekommen waren, sah Ethan sich um.
Es war eine halberwachsene Lichtung, kahle Stellen, die auf alte Wege schließen ließen, aber abgesehen von vereinzelten Wänden war von Häusern nichts mehr zu sehen. Allerdings war das Unterholz so dicht, dass man nicht die gesamte Ortschaft überblicken konnte. Alte knochige Bäume warfen lange Schatten und selbst die jungen Bäume hier waren mindestens Mannshoch.
„Wo ist dieser alte Garten?", fragte Ethan und Selen, die hinter Lindsey gegangen war um ihrer Inspektionsrunde zu folgen, blieb stehen.
„Ich zeig' ihn dir", meinte sie und Ethan gab Derek ein Zeichen bei Lindsey zu bleiben. Sicherheit ging wie immer vor.
Während Lindsey sich mit seinem Kollegen durch das Unterholz schlug und die alten Ruinen abging, blieben Ethan und Selene am Rand der Halbinsel wo man mehr von der Umgebung beobachten konnte.
„Hast du nicht gesagt, es gibt hier keinen Friedhof?", fragte Ethan plötzlich und blendete mit seiner Taschenlampe an einem halbwegs gut erhaltenem Haus vorbei, das von der Baumkrone eines riesigen Baumes fast vollständig bedeckt wurde. Der Baum stand hier Jahrhunderte länger als das Haus, aber es kam ihm seltsam vor, dass jemand direkt neben so einen mächtigen Stamm ein Haus bauen sollte. Aber der Baum war schön, trug kleine stark riechende gelb-weißen Blüten, die in dichten Erlen herabhingen. Vielleicht gefiel dem Hausbauer einfach der Platz und Ethan konnte das gut nachempfinden
„Das ist kein Friedhof, sondern ein alter Stein-Kräutergarten", erklärte sie und Ethan besah sich die unbehauenen Steine die in einigen Reihen nebeneinander errichtet wurden. Zusammen mit den davor verlaufenden Ecken und der unterschiedlichen Bepflanzung kann man es schon für einen Friedhof halten. Vielleicht war das für die Legenden verantwortlich.
„Sowas hab ich noch nie gesehen", meinte er. Selene zuckte mit den Schultern. „In Griechenland und anderen heißen Ländern sind sie üblich. Die Steine bieten Schatten und speichern die kühle der Nacht. So trocknet der Boden runt herum nicht aus. Er erinnert tatsächlich an einen Friedhof, aber nur an moderne Friedhöfe mit Steinen. Zu Gründerzeiten hat man, wenn überhaupt, ein Holzkreuz gesetzt."
Das klang einleuchtend. Ethan ging auf diesen seltsamen Garten zu. Selene suchte diese kleinen abgesteckten Bereiche ab, offensichtlich auf der Suche nach dem Mondschattenkraut, als Ethan ein Knarzen über sich vernahm. Nichts Ungewöhnliches, nichts verdächtiges. Im Nachhinein wusste er nicht genau, warum er überhaupt auf die Idee kam den Kopf in den Nacken zu legen und in die Baumkrone hineinzusehen, die so dicht bewachsen war, dass man von außen nichts erkennen konnte, aber er tat es und erstarrte.
„Selene. Komm her!", sagte er, versuchte nicht noch einmal nach oben zu sehen, um Selene nicht auch noch auf die Idee zu bringen den Blick zu heben. Sie sah stirnrunzelnd vom Boden auf.
„Das Kraut ist da hinten," sagte sie, aber das war Ethan momentan egal. Er griff nach ihrem Arm und zerrte sich unter den Baum fort, bevor er den Weg mit ihr zurückging und dann Lindsey und Derek zu sich winkte, die ohne zu zögern kamen.
„Was ist los?", fragte Selen, wehrte sich aber nicht gegen seinen Griff. Ethan sah noch einmal zu dem Baum zurück. Wie vermutet: Man sah gar nichts. Die inneren Äste waren Komplet verborgen, genauso wie die unzähligen Leichen, die dort in allen Verwehsungsstufen an einem Strick hingen und sanft im Wind hin und her schwankten. Als würde eine Mutter ihr Kind in den Schlaf wiegen. Und mitten in diesem Meer aus Gehangenen hing auch Henry Lundwill zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Nein, diesen Anblick wollte er Selene nicht antun. 

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now