Ein langer Flug

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Kapitel 17
Ethan konnte nicht fassen, dass er das getan hatte. Eine Frau einfach zu küssen war nie sein Stil gewesen, er mochte zwar wie ein Mann wirken, der sich einfach nahm was er wollte, doch in der Regel hatte er sich besser unter Kontrolle. Diese eiserne Disziplin hatte er sich über viele Jahre hart erkämpft, sie hatte ihm geholfen die Polizei-Ausbildung zu überstehen, ohne einen der Ausbilder umzubringen und es hatte ihm den Sprung zum FBI ermöglicht, obwohl ihm sein Onkel Steine in den Weg gelegt hatte. Diese Disziplin war nun verschwunden und er war plötzlich wieder dieser Teenager der von seiner Wut und seiner Gier fast erstickt wurde.
Seine Eltern hatten ihn damals von einem Therapeuten zum nächsten geschleppt. Weil er sich von einem Tag auf den anderen von einem lieben zwölfjährigen Jungen in ein Problemkind verwandelt hatte. Mit Beginn seiner Pubertät hatte Ethan ganz plötzlich eine verzweifelte Leere in sich gespürt, die er mit nichts hatte füllen können und die ihn mit sechzehn fast ins Jugendgefängnis gebracht hätte. Solange bis sein Vater seinem Ex-Schwager, einen Polizisten, anbettelte ihn unter seine Fittiche zu nehmen.
Ethan war ab da bei seinem Onkel, Charles Croffort, eingezogen. Ein neues Umfeld, neue Freunde und ein hartes Regelwerk, das ihm so viel Verantwortung aufgetragen hatte, dass es leicht gewesen war die Leere zu ignorieren.
Das hier konnte er nicht ignorieren. Dieses nagende, zwanghafte Bedürfnis sie zu berühren. Eine Frau die Hilfe suchte, die Schutz brauchte, bei der er selbst, die Behörde und die Einwohner ganz Amerikas in der Kreide standen. Und er bedrängte sie. In den Moment des Kusses, die Stunden danach bis hin zu diesem Augenblick.
Er hatte sich im Privatjet des FBI direkt neben sie gesetzt und ignorierte die rund zwanzig anderen freien Plätze, die der Jet aufzuweisen hatte. Der Zwang in ihrer Nähe zu sein war halsbrecherisch und er hatte tatsächlich Angst sie den Blicken seines Teams auszusetzen, das immer noch nicht angekommen war.
Er sollte ein schlechtes Gewissen haben und sich dumm vorkommen, sie so zu bevormunden. Aber in den Moment als Lindsey Hall, seine Stellvertreterin, in den Flieger trat und Selene erblickte, wusste er genau warum er sich so verhielt. Lindseys Gesicht wurde blass, sofern das bei ihrer Hautfarbe möglich war und der skeptische Blick machte deutlich, dass sie nicht nett würde sein können.
Das hatte zwar wenig mit Selene selbst zu tun, aber Ethan wusste genau, dass dieser eine Ausrutscher vor ein paar Jahren maßgeblich dazu beitrug. Lindsey war nicht der Typ Frau, der Affären einging. Sie hatte mehr gewollt, selbst wenn es ihr den Job gekostet hätte. Selenes Anwesenheit schien wie ein rotes Tuch zu wirken.
"Was macht sie hier?", fragte Lindsey ohne Selene auch nur anzublicken, während diese selbst müde den Blick hob und nicht zu wissen schien, wie sie reagieren sollte. Doch das musste sie auch nicht.
Ethan erhob sich, lehnte seine Unterarme auf den Sitz vor ihm und versperrte so Lindseys Blick auf Selene, bevor er antwortete.
„Sie ist an den Ermittlungen beteiligt. Wenn du damit nicht klar kommst, kannst du gerne in Quantico bleiben. Zusammen mit Dean und Carsten", erwiderte er kalt und der unüberhörbare warnende Unterton, den er angelegt hatte, ließ Lindsey tatsächlich für eine Weile innehalten. Aber nicht lange genug um sich ihre Worte genauer zu überlegen. Er würde sie vielleicht doch bei den beiden Computertechnikern lassen müssen, das wäre eine angemessene Strafe, allerdings nicht nur für Lindsey. Dean und Carsten hätten ebenfalls zu leiden, Lindsey war unausstehlich wenn sie schmollte.
„Du selbst hast doch immer betont, dass wir Alice so weit wie möglich aus den Ermittlungen heraushalten müssten, dass wir ihr auf keinen Fall vertrauen dürfen und..."
„Es geht nicht um vertrauen, Agent Hall", fuhr Selene mit einer eisigen Stimmlage dazwischen, die nichts von der Freude und den leichten Übermut erkennen ließ, den sie normalerweise in sich trug. Sie war schneidend, distanziert und so unmenschlich berechnend, dass jeder andere Mann sich den Hintern an ihr abgefroren hätte. Nicht aber Ethan. Als sich sein Blick auf seine Sitznachbarin legte, konnte er nicht umhin sich auch weiterhin von ihr angezogen zu fühlen. Vielleicht wegen ihrer Schönheit, vielleicht wegen ihrer eigentlich quirligen Art mit der sie sein Leben durcheinander brachte und vielleicht auch wegen diesen ständigen Widersprüchen, die in ihr zu stecken schienen. Sie war mit Abstand die interessanteste Frau, der er jemals begegnet war.
„Es wäre naive anzunehmen, ich würde meine Geheimnisse nicht auch weiterhin für mich behalten und euch bewusst Dinge verschweigen. Das habe ich immer. Ihr kennt nun meinen Namen und mein Gesicht, mehr Einblicke werdet ihr aber von Alice nicht erhaschen. Das sollte euch klar sein."
Ethan spürte wie seine Brust vor Stolz anschwoll und seine Sinne sich von ihr weiter fesseln ließen. Geheimnisse. Er liebte Geheimnisse und er liebte es vor allem, sie anderen zu entlocken. Noch etwas was ihn mehr an Selene kettete und langsam fragte er sich, ob er sie nach diesem Fall überhaupt gehen lassen würde.
„Du gibst also im Vorfeld zu, dass du unsere Ermittlungen behindern wirst?", fauchte Lindsey weiter und Ethan wandte sich wieder zu seiner Stellvertreterin, die er nun tatsächlich lieber hier lassen würde. Sie saßen hier gerade in einen Privatjet des FBI, nur weil hier keine anderen Passagiere saßen, bedeutete es nicht, dass dieser Konflikt durch das Boardteam nicht nach außen dringen würde. Lindseys Benehmen war absolut inakzeptabel.
„Behinderung von Ermittlungen und das für sich behalten von Informationen, sind zwei verschiedene Dinge. Das sollten Sie von ihrem Vater gelernt haben."
Ethan erstarrte.
Lindseys Vater war nur knapp einer Verurteilung wegen Behinderung der Justiz entkommen, weil er dem Finanzamt nichts von den Treuhandfonds seiner Kinder erzählt hatte, die in die Insolvenzmasse seines gescheiterten Unternehmens hätten eingehen müssen. Als die Steuerbeamten das herausfanden, haben sie ihn verklagt und er hatte sich vor dem Richter genau mit dieser Haarspalterei herausgeredet. Das alles aber konnte Selene unmöglich wissen.
„Woher weißt du von meinem Vater?", fragte Lindsey, die nicht nur wesentlich kleinlauter daherredete, sondern nun tatsächlich etwas verängstigt wirkte. Es war unmöglich an diese Informationen heranzukommen. Dieses Ereignis war Jahrzehnte her und stammte aus einer Zeit, in der es noch keine digitalen Akten gab und die wenigen Papiere zu diesem Vorfall waren auf richterliche Anweisung hin versiegelt worden.
Es war einfach unmöglich.
Selene hielt Lindseys Blick noch für unerträgliche zwanzig Sekunden gefangen, bevor sie sich wieder dem Fenster an ihrer Seite zuwandte und dabei zusah wie auch der Rest seines Teams seinen Weg in das Innere des Jets fand. Lindsey ahnte, dass sie darauf keine Antwort bekommen würde, wurde daraufhin wieder zornig und zog sich auf einen Platz zurück, der so weit wie möglich von Selenes entfernt war.
Ethan ließ sich zurück in seinen Sitz fallen und musterte Selenes Profil aufmerksam, aber ohne den Fehler zu machen von ihr eine Antwort zu erwarten. Das würde ein verflucht langer Flug werden so viel stand fest. 

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now