Von Fällen die an die Nieren gehen

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Kapitel 22
„Okay, Jungs. Schluss damit. Es wäre schön, wenn wir zur Professionalität zurückkehren könnten. Hier ist ein Mörder unterwegs und ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Mr. Hirsch: Wir haben den dringenden Verdacht, dass der Mörder einen Narren an das Püppchen gefressen hat und können sie unmöglich aus den Augen lassen. Sie steht unter Polizeischutz und da wir nicht ausschließen können, dass der Mörder hier aus der Gegend stammt, lassen wir sie mit niemand mitgehen", beschied Lindsey knapp und schlug Ethan einmal unauffällig gegen die Schulter.
Die leichte Berührung der Beiden traf Selene so heftig, als hätte ihr jemand ein Messer in den Bauch gestoßen, doch in Gegensatz zu Agent McAlan wusste sie, wie man das irrationale Gefühl verdrängte. Sie erinnerte sich daran warum sie so fühlte, warum diese Chemie so schnell so heftig zwischen ihr und Ethan geworden war. Der eigentliche Zweck ihrer Gabe meldete sich mit all seiner Heftigkeit zu Wort: DNA-Erhaltung. Es war dieser intuitive Instinkt, der sie dazu brachte Lindsey fast die Augen auskratzen zu wollen und sich in Ethans Nähe behütet zu fühlen. Es ging um Sex und die Weitervererbung ihrer Gabe. Nichts weiter.
Es war nichts Rationales an ihrem oder Ethans Verhalten, kein freier Wille, keine bewusste Entscheidung. Und sie würde sich von diesem Fluch definitiv nicht ihr Leben bestimmen lassen! Ethan war für sie die denkbar schlechteste Option. Er war arrogant, bevormundend, erdrückend dominant und vor allem über zehn Jahre älter als sie. Was dachte sie sich dabei auf seine Avancen einzugehen?
Das musste Enden! Sofort!
Selene machte sich aus seinem Griff los und trat an Lindsey heran, die sie auf einmal weder zu verabscheuen schien, noch Eifersucht hegte. In der einsamen Zeit des Fluges, den sie so weit abseits von allen anderen verbracht hatte, schien die hübsche FBI Agentin sich doch tatsächlich beruhigt zu haben. Wenn Lindsey sich so erwachsen verhalten konnte, konnte Selene es auch!
„Ich kenne den Weg nach NewHollow und fahre euch gerne ins Sheriffbüro", bot sie an und zu ihrer Überraschung grinste Lindsey breit.
„Zumindest eine, die sich daran erinnert, weswegen wir hier sind. Da wir sowieso mit zwei Autos fahren, schlage ich vor ihr Jungs fahrt uns einfach nach. Während Debuty Hirsch nach Hause fährt und uns diesen Fall endlich überlässt!"
Der Tonfall und der unbewegte Ausdruck in ihrem Gesicht ließ jeden Gedanken an Protest bei den Männern verschwinden. Nur Agent Levis alias Bobby begriff es nicht sofort.
„Ich fahre bei euch mit", erklärte er in einem fröhlichen Singsang. Lindsey drehte sich nicht einmal zu ihrem Kollegen um.
„Vergiss es, Bobby! Girlscar!"
„Menno!"
Selene drehte sich nach dem quirlig, freundlichen Latino um, der sie trotz des Ausrufs breit angrinste und ihr zuzwinkerte, worauf Selene sich ein Glucksen nicht verkneifen konnte.
„Flirte nicht mit ihm, sonst schafft er es nie lebend nach NewHollow!", schnaufte Lindsey leicht genervt, aber mit nur wenig ernst in der Stimme – was für ihre Verhältnisse dann wohl schon komisch gemeint war. Dennoch wandte sich Selene von dem jungen Agent ab und folgte Lindsey bis zu den Mietwagen, die vor dem Flughafen standen.
Von zwei Männern am Schalter des Logistikflughafens erhielten sie einen der Schlüssel, das Gepäck stand bereits abholfertig in der leeren Ankunftshalle. Es gab keine Bänder und keine Wartezeit. Das Terminal war nicht auf menschliche Passagiere ausgelegt, nur auf Fracht, aber es erfüllte seinen Zweck.
Obwohl Selene angeboten hatte zu fahren, setzte sich Lindsey hinter das Steuer und sie selbst nahm als Beifahrerplatz.
„Der Landstraße einfach folgen bis zur Hauptstraße und dann nach rechts. Ab da immer geradeaus bis du das Ortsschild siehst", erkläre Selene, noch bevor Lindsey den Wagen hatte starten können.
„Das ist alles?", fragte sie geradezu schockiert. Selene zuckte mit den Achseln.
„Provinz eben. Nach NewHollow führen genau zwei Straßen, dazwischen sind nichts als der Duffy-River und seine beiden Ausläufer, sowie einige hundert Hektar Wald."
„Wow. Das perfekte Setting für einen Serienmörder", murmelte sie bis sie merkte, was sie da gesagt hatte und wer unter den Opfern des MadHatters war.
„Entschuldige, bitte ich wollte nicht."
„Schon gut", unterbrach Selene, die sich in keiner Weise getroffen fühlte. Ja, die Abgeschiedenheit machte es solchen Verbrechern sicherlich wesentlich einfacher ihren Taten nachzugehen und auch wenn ihre Großmutter eines der Opfer war: Sie war darüber hinweg. Sicherlich war es demütigend und verstörend zu erfahren, dass der Mistkerl sie die ganze Zeit zum Narren gehalten hatte, aber sie trauerte längst nicht mehr.
Lindsey nahm es hin und fuhr los als die Männer hinter ihr den Wagen bestiegen. Michael Hirsch wartete noch bis er in seinen eigenen Wagen stieg und in die andere Richtung fuhr. Selene erinnerte sich, dass seine Eltern nicht direkt in NewHollow wohnten, sondern etwas weiter außerhalb eine Farm betrieben. Er würde wohl zu ihnen fahren.
„Das zwischen dir und Ethan darf nicht sein", begann Lindsey plötzlich, doch Selene war nicht überrascht. Irgendeinen Grund musste es ja gehabt haben, dass sie darauf bestand mit ihr allein zu fahren.
„Zumindest solange dieser Fall läuft", fügte sie nach einigen Sekunden hinten ran, als würde ihr gerade erst einfallen, dass sie kein Recht hatte eine mögliche Tändelei zu verbieten. Doch es gab etwas außerhalb der rationalen Erklärung, etwas was sie diesbezüglich zu klären hatten.
„Ihr hattet eine Affäre. Du und Ethan. Aber du liebst ihn nicht", sagte Selene ohne auf Lindseys Worte einzugehen. Das musste sie nicht. Die andere Frau hatte Recht. Während dieses Falles durfte nichts zwischen ihr und Ethan passieren. Das würde ein schlechtes Licht auf das FBI und deren Integrität werfen.
„Nein, ich bin nicht in Ethan verliebt, es war ein Versehen", presste Lindsey hervor und sah sie mit gerunzelter Stirn an. Aber sie wagte es nicht sie zu fragen, woher sie das wusste.
„Ein Versehen?", hackte Selene nach. Lindsey seufzte.
„Jeder hat mal einen Fall, der einen an die Nieren geht. So richtig an die Nieren, meine ich. Und mehr als es je ein Anderer tun wird. Bei mir ist es ein Ungelöster. Also ein ungelöster Fall, das sind meistens die, die einen nicht loslassen. Alle paar Jahre finden wir wieder eine Leiche und dann bin ich immer ziemlich am Ende, an einem solchen Abend ist das mit Ethan passiert."
Selene horchte auf, ließ das Thema Affäre fallen und konzentrierte sich auf diesen einen Fall, der die taffe Agent Lindsey Hall sosehr verzweifeln ließ, dass sie mit einem Kollegen ins Bett stieg.
„Was ist das für ein Fall?", fragte sie in der Hoffnung so ein Blick auf die Frau erhaschen zu können, die neben der Zicke und der FBI-Agentin in Lindsey steckte. Aus Erfahrung wusste sie, dass Menschen nie einfach nur einfach waren. Jeder hatte tausende Fassetten, die es zu erkunden galt. Geheimnisse und Wünsche, die einen sympathischen Menschen böse und eine Zicke zu einer guten Agentin machen konnten.
„Du hast genug Albträume", beschied die Frau nur knapp und schlug dabei einen Tonfall an, der tatsächlich beschützend klang.
„Du vergisst wer ich bin", widersprach Selene knapp und Lindseys Blick fiel kurz auf ihr Gesicht. Selene nutzte die Chance und benutzte ihre Gabe. Zu ihrer Überraschung sah sie weder eine krankhaft eifersüchtige Ziege, noch eine starke FBI-Agentin. Sie sah eine Mutter mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, die mit einem kleinen Jungen an der Hand Eis essen ging, über ein Feld rannte und ihm eine Gutenachtgeschichte vorlas. Lindsey war Mutter von einem hübschen, kleinen schwarzen Jungen. Und egal wie viel Finsternis ihr Beruf in ihr Leben brachte, ihr Kind beherrschte ihr Innerstes.
Wenn sie Mutter war, erklärte das auch ihr plötzlich beschützendes Verhalten ihr gegenüber. Lindsey sah in ihr kaum mehr als ein Kind.
„Es gibt da ein Pärchen, das seit fünfzehn Jahren durchs Land fährt. Alaska und die USA hauptsächlich, obwohl wir vermuten, dass auch einige Fälle aus Mexiko auf ihr Konto gehen. Sie suchen sich Kinder. Die Jüngsten, von denen wir wissen, waren acht, die Ältesten siebzehn. Geschlecht, ethnische Herkunft, das alles ist ihnen egal. Sie schnappen sich die Kinder und vergewaltigen sie ein paar Wochen lang. Ab und zu überlebt ein Kind die Tortur nicht und wir Finden die Leichen an Bächen und Seen, am Strand, in Wäldern. Der einzige Grund warum wir wissen, dass diese Fälle miteinander in Verbindung stehen sind diese Tonbänder, die sie während der Tortur der Kinder machen. Diese schicken sie dann an die Familien."
Selene hörte ihren eigenen Herzschlag und spürte Wut in sich aufsteigen. Sie hatte gewusst, dass es Monster auf der Welt gab, aber manchmal schockierte sie es dennoch. Wenn Lindsey einen Sohn hatte, war es kein Wunder dass sie an diesem Fall hing. Als Elternteil konnte man sich auch gut in die Lage der Zurückgebliebenen versetzen. Es war grausam ein Kind zu verlieren, es geschändet und ermordet zu wissen. Aber es sich auf Tonband auch noch anhören zu müssen wie das eigene Kind leidet.... Unvorstellbar.
„Sie verstecken die Leichen also gut?", fragte Selene nur um überhaupt etwas zu sagen. Lindsey schnaufte und schüttelte den Kopf.
„Nicht wirklich. Sie ermorden die Kinder nicht mit Absicht. Jedes Kind, das wir tot auffanden war an inneren Verletzungen oder anderen Misshandlungen gestorben, die eine brutale Vergewaltigung mit sich bringen kann. Wir sind uns sicher, dass sie die Kinder nicht mit Absicht töten."
„Was machen Sie dann mit den Kindern? Sie holen sich doch immer wieder neue."
„Da haben wir nur Vermutungen. Das ist es was mich wahnsinnig macht. Das diese Kinder weiter leiden, in jeder Minute und jedem Tag, in dem wir nicht dazu in der Lage sind sie zu finden."

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Na huch...wo ihr doch alle so wenig von Lindsey haltet xD jetzt bin ich auf eure meinung, was sie angeht gespannt :D

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now