Vertrauen und Missbrauch

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Kapitel 29
Selene bestellte sich ein Taxi als sie den Kuss, ihre Panikattacke und auch Ethans Warnungen von sich abgeschüttelt hatte. Natürlich war sie nicht verrückt, als sie sich vor dem Gasthaus in den gelben Wagen fuhr und den Fahrer bat sie ins Sherriffbüro zu fahren. Sie war sich den Ernst der Lage bewusst und verstand, warum Ethan darauf bestand sie abzuholen. Es war sicherer, aber eines hatte der liebe Agent McAlan nicht bedacht: Sie hatte seine verdammte Nummer nicht und als sie die Frau an der Rezeption ansprach, wurde sie ignoriert. Natürlich.
Nach ihrem kurzen Ausflug nach Quanatico hatte sie fast vergessen, dass sie eine Aussätzige war und die Voreingenommenheit ihrer Heimatstadt war ihr surreal vorgekommen. Nun war sie wieder da und die Realität traf sie so heftig, als hätte ihr jemand die Faust in den Magen gerammt. Als das Taxi hielt und Selene den Fahrer bezahlte, griff die Vergangenheit wieder nach ihrem Verstand, aber bei weitem nicht so schlimm wie vor drei Stunden als sie einfach vor dem Gebäude gestanden hatte und einfach erstarrt war.
Diesmal war sie vorbereitet und zu Stur um sich wieder wie ein Häufchen Elend in einem Bett zu vergraben. Sie war stärker als ihre Angst, stärker als der Hass um sie herum und stärker als ihre Vergangenheit. Sie war beschissen behandelt worden, aber nun war es an der Zeit den Arsch zusammenzukneifen und sich dem zu stellen, was in NewHollow lauerte. Einen verdammten Serienkiller der einen kleinen Jungen getötet hatte.
Zu ihrer Überraschung wurde Selene nicht aufgehalten als sie den Eingang passierte. Sie wusste, wo sie langgehen musste und landete nur wenige Augenblicke später im Großraumbüro des Sheriffs. Die Männer um sie herum waren beschäftigt und beachteten sie kaum und Selene runzelte die Stirn, als sie sah, wie Michael Hirsch an einem Tisch vor seinem Büro sah und nicht darin. Jemand hatte alle seine Möbel einfach auf den Gang gestellt und Selene konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Degradiert?", fragte sie belustigt, als Michael zusammen zuckte und erstaunt zu ihr aufsah. Er war schön, das war er immer gewesen und während er noch vor wenigen Jahren eine Anziehungskraft auf sie ausgeübt hatte, schien sein Äußeres sie nun vollkommen kaltzulassen. Dank Ethan. Sie hatte von ihm geträumt, lange bevor sie ihn kannte doch nun war sie ihm begegnet und sie war kein Teenager mehr, die mehr Angst vor diesen Koloss von einem Mann hatte als Ethan McAlan tatsächlich attraktiv zu finden. Nun war ihr Männergeschmack sehr viel rauer geworden und obwohl auch Michael rauer geworden war, reichte es nicht aus.
Er lächelte sie an, bevor er sich von seinem Stuhl erhob und sie damit dazu zwang zu ihm hinauf zu blicken.
„Irgendwie schon. Agent Hall bracht mein Büro und sie ist sehr effektiv darin alles aus dem Weg zu räumen, was sie bei der Lösung des Falles im Weg stehen könnte."
„Inklusive deiner Minipalme." Selene deutete mit den Daumen auf das Hüfthohe Gewächs das nun mitten vor dem Tisch stand und sicherlich vorher einen Platz in seinem Büro gehabt hatte.
„Jap. Inklusive meiner Minipalme." Etwas blitzte in seinen schönen blauen Augen au, als sie sich so gegenüber standen und Selene wurde das Gefühl nicht los gerade einen Fehler gemacht zu haben. Vielleicht hätte sie ihn nicht ansprechen sollen, denn er sah nicht so hoffnungslos aus wie noch heute Morgen am Flughafen.
„Gut. Hier hängt ziemlich viel Testosteron in der Luft, pass auf das niemand dagegen pinkelt", entwich ihr auf ihre typische sarkastische Art und eigentlich wollte sie sich mit diesen Worten wieder abwenden, aber Michaels strahlendes Lächeln brachte sie tatsächlich aus dem Konzept.
„Ich habe glatt vergessen wie witzig du bist." Sie erkannte die Lüge, als sie sein Mund verließ, denn er hatte nie vergessen wie schlagfertig und ironisch sie sein konnte. Nie. Den während der Highschool hatte ihr ständig gesagt, wie lustig sie sei, besonders wenn er uns seine Clique ihr eines ihrer Streiche gespielt und sie dann ausgelacht haben. Aber da war sie der Witz gewesen.
„Nein, hast du nicht", entkam ihr verbittert und sein Lächeln verschwand sofort. Ganz so als würde er sich gerade selbst daran erinnern was er damals alles getan hatte. Selene entging seine Reue nicht, aber es war ihr einfach egal. Absolution würde er von ihr sicherlich nicht erhalten, vielleicht konnte sie ihre Vergangenheit eines Tages wirklich hinter sich lassen, wenn sie Abstand hatte und sie in dieser Stadt nicht mehr wie eine Aussätzige behandelt wurde. Aber dieser Tag war nicht heute.
„Selene ich will nicht..."
„Nein. Lass es, Michael. Ich will es nicht hören. Wo ist Agent McAlan?", fragte sie nur um das Thema wechseln zu können. Michael war clever genug um es ebenfalls fallen zu lassen. Aber seine Antwort war nicht unbedingt einfacheres Gefilde, so wie sie es sich vorgestellt hatte.

„Im Verhörraum, mit Shawn Pee."
Als sie den Namen des ehemaligen Sheriffs von NewHollow und damit der Vorgänger von Henry Lundwill, der ja immer noch vermisst wurde. Er und seine Familie. Bei diesen Gedanken zogen sich ihre Eingeweide zusammen und sie wusste nicht, was schlimmer war: Henrys Abwesenheit oder Shawns Anwesenheit.
Doch sie kam nicht dazu sich weiter darüber Gedanken zu machen, den am anderen den Großraumbüros wurde etwas umgeworfen und Geschrei drang zu ihnen herüber. Michael fluchte und lief auf das Handgemenge zu, dass James Hollow gerade von Zaun gebrochen hatte.
„Du mieser, scheinheiliger Wichser! Ich weiß, dass du damit etwas zu tun hast! Ich weiß es! Ich habe es immer gewusst!" schrie Karl Hollows Vater in eine Richtung, die sich Selenes Blick verschloss und ihr so nicht verriet, wem James gerade so heftig verbal attackierte. Es war schockierend der noch recht adrette Tabak-Bauer so aufgebracht zu sehen. Wann immer Selene James Hollow gesehen hatte, war er ein eher sanfter Riese gewesen, der zwar mit sehr viel Autorität über seine Frau und seinen fünf Kindern herrschte, aber das war für einen Mann aus so einer rauen Gegend nichts Ungewöhnliches. Er trank nicht, spielte nicht, arbeitete hart damit auch in schwierigeren Zeit sein Land schuldenfrei blieb und wurde in NewHollow für mehr respektiert als nur ein Nachfahre der Gründerfamilie zu sein. Anscheinend konnte er aber auch anders, denn gerade hatten drei erwachsene Männer damit zu tun, denn man davor zurückzuhalten ihn davon abzuhalten, wem auch immer, an die Kehle zu springen.
„Verdammt, James! Beruhig dich, was soll der scheiß? Muss ich dich wirklich einsperren?", fragte Michael ernst und Selene war erstaunt wie fest und autoritär seine Stimme klang. Kein Wunder, das Henry ihn zu seiner Vertretung gemacht hatte: Michael Hirsch war der geborene Sheriff.
„Mich? Ihn solltest du einsperren! Er hat meinem Karl etwas angetan, er hat ihm ...", James Stimme brach und verlor sich in einen herzzerreißenden Schlurzen, der selbst Selene hart schlucken ließ.
„Oh, Gott. Warum hat er ihn den umgebracht? Karl war so ein lieber Junge, hat niemanden irgendetwas getan", weinte er weiter und Selene machte rein instinktiv einige Schritte auf James Hollow zu. Der Drang zu trösten, zu heilen und zu umsorgen war fest in ihrer DNS verwurzelt. Genauso wie ihre verfluchte Fähigkeit.
„Ich bitte Sie, Mister Hollow", ertönte eine Stimme aus der Richtung, in die James seine Flüche und Verleumdungen geworfen hatte. Selene erschauderte, denn niemals würde sie sanfte, ruhige und beherrschte Stimme jemand andere zuordnen können als Pastor Thomas Kain.
Nur wegen dieser Stimme, die Wärme und Güte versprach, hatte Selene eine Zeit lang ebenfalls an den Unterricht der Sonntagsschule teilgenommen. Bis Hanna, ihre Großmutter, es verboten hatte und Selene auch sonst von der Kirche ferngehalten hatte.
„Ich habe ihren jungen ganz sicher nichts angetan. Sie trauern und ein Mörder läuft in der Stadt frei herum, sie suchen einen Schuldigen, aber wenn Sie sich beruhigen und die Polizei ihren Job machen lassen bin ich sicher, dass alles ans Licht kommt", sagte er ohne auch nur im geringsten Beleidigt von James Anschuldigungen zu sein. Ganz im Gegenteil, er war so ruhig, dass es fast schon ungewöhnlich war, schließlich war er gerade des Mordes an einem Kind beschuldigt worden.
Thomas Kain, trug seinen schwarzen Anzug mit dem Kollar, dem typischen weißen Einsatz im Kragen, mit einer würde, die ihn nicht nur stand, sondern auch attraktiv machte. Er war erst Anfang vierzig und mit seinen schönen dunkelbraunen Haar und den warmen braunen Augen, fühlte man sich automatisch sicher und geborgen bei ihm. Er war ein guter Mensch. Das wusste Selene aus eigener Erfahrung, den er war einer der wenigen gewesen, die sie nie schlecht behandelt hatten und er hatte sogar versucht etwas gegen die Art, wie sie behandelt wurde zu unternehmen.
„Was an Licht kommen sollte, ist das, was tun getan hast!", beharrte James Hollow weiterhin und Selene stöhnte genervt. Ob Trauer oder nicht. Diese Stadt musste endlich aufhören sich Sündenböcke zu suchen.
Dann erst viel Selene die Haltung des Pastors auf, die eher mühevoll aussah als gerade und würdevoll wie sonst immer.
„Pastor Kain, geht es ihnen gut?", fragte sie, während Michael und die anderen versuchten beruhigend auf James Hollow einzureden und als Selene zu Kain ging, winkte dieser mit einem strahlenden Lächeln ab.
„Die Tat eines trauernden Mannes, der gerade schreckliches durchmacht, Kind. Sonst nichts." Dennoch ging Selene zu ihm, als er versuchte sich wieder auf einen der Wartestühle an den Rand zu setzen. Er hielt sich die Seite, als hätte er schmerzen.
„Wollen Sie eine Anzeige machen, Pastor?", fragte Debuty Douglas Pee, mit eher gelangweilter Tonlage als tatsächlichen Interesse. Kurz begegnete er Selenes Blick, die ihn finster anstarrte und sicher irgendetwas Schnippisches gesagt hätte, hätte Thomas Kain nicht selbst das Wort ergriffen.
„Nichts was sich nicht mit den Wundern der modernen Medizin lösen lässt, Debuty. Ich verzichte. Sein Schmerz kann nur Gott heilen", meinte er und Selene war fast Fassungslos, dass Kain trotz einer offensichtlichen Verletzung von James Hollow so gutherzig sein konnte. Debuty Pee trollte sich mit einem Schulterzucken und Selene wandte sich wieder an Kain.
„Was ist den passiert?", fragte sie und versuchte unter dem schicken Anzug etwas von der Wunde zu erkennen. Kain drückte mitfühlend und dankend ihren Oberarm.
„Er ist mit einer Mistgabel auf mich losgegangen. Im Krankenhaus meinten sie, es sei nichts Schlimmes, aber ich muss eine Aussage machen, genau wie Mister Hollow. Der normale Wahnsinn in NewHollow eben. Verhört man dich wegen Karls Leichenfund?" Selene lächelte ihn an. Wahr ja klar. Er saß hier und wäre fast mit einer Mistgabel erstochen worden und fragte dennoch erst danach, ob sie wieder ungerecht behandelt wurde.
„Nein. Nicht wirklich. Das FBI verdächtig mich nicht, er ist auf meiner Veranda abgelegt worden und ..."
„Du musst es doch sehen!" rief James Hollow ihnen plötzlich wieder zu. Diesmal aber sehr viel leiser und sehr viel verzweifelter. Kein Wunder, denn man hatte seine Hände hinter dem Stuhl mit Handschellen befestigt, damit er nicht noch einen Versuch unternehmen konnte, Pastor Kain anzugreifen.
„Du musst es sehen!", flehte James mit Tränen in den Augen und sah sie dabei direkt an. Selene wusste nicht, was sie mehr aus der Fassung brachte, dass James Hollow sie anflehte oder das er so offensichtlich davon überzeugt war, dass sie etwas „sehen" konnte. Die Gerüchte über Selene Andersheit waren nicht wirklich etwas Handfestes, auch nicht für die Leute in NewHollow aber sie glaubten daran, dass Hanna eine Hexe war und ahnten sehr wohl in welche Richtung Selenes Fähigkeiten gingen.
Unter normalen Umständen hätte sie mit einem tief sarkastischen Ton, seine Vermutung ins Lächerlich gezogen. Aber wie sollte man einen trauernden Vater ins Gesicht sehen und ihn als Spinner abtun, wenn er verzweifelt um Hilfe bat?
Also drehte sich Selene um und sah Pastor Kain in die Augen. Sie sah nichts von Karl, nichts von einem Mord aber sie sah andere Dinge, die ihn geprägt haben. Furchtbare Dinge. Er sah ein kleines Mädchen, dem tröstend über den Kopf streichelte und sah die Gier, die ihn bis zum heutigen Tag danach trachten ließ, weiterzugehen. Er wollte sie anfassen, dieses hübsche rothaarige Mädchen, er wollte sie küssen und lieben, wie Männer Frauen liebten. Und er freute sich so sehr darauf sie endlich bei sich haben, in seinem Keller. Da hätte sie es warm und gemütlich, keiner würde ihr mehr böses tun. Er würde sie beschützen und sie würde sich dafür erkenntlich zeigen. Dieses hübsche kleine, rothaarige Mädchen. Er hätte es getan und konnte es nicht, weil Hannah James es gewusst und Selene den Gang in die Sonntagsschule verboten hatte.
„Mein Kind?"
Selene zuckte zurück, als Thomas Kain versuchte sie wieder zu berühren und schlug ihm mit einem Mal so hart ins Gesicht, dass das Klatschen durch das ganze Büro zu hören gewesen war. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie wich zurück, verschränkte ihre zitternden Hände vor ihren Körper um den Drang nicht zu erliegen weiter auf diesen Mann einzuschlagen.
Einen Mann, den sie als ihren Freund, ihren Verbündeten betrachtet hatte und der in ihr nur in einsames, hübsches Mädchen sah. Leichte Beute. Er hatte sie benutzt, sie manipuliert, als sie verletzlichsten war. Und dann konnte sie doch nicht widerstehen. Der Unglaube in seinen Blick, diese Unschuld, die angebliche Unwissenheit machten sie wütend. Sie ging wieder auf ihn zu und schlug ihn nochmal und nochmal, bis Michael sie packte und von ihm wegzog. Dennoch kämpfte sie gegen den Griff an, gegen den Arm, der sie davon zurückhielt diesem Dreckskerl die Eier abzureißen und ihn dafür zu bestrafen was er getan hatte.
„Selene! Selene, hör auf, was ist nur in dich gefahren?", hörte sie irgendjemanden, aber es war ihr egal.
Sie wollte auf ihn einschlagen, ihn vernichten. Sich rächen. Für das was er mit ihr vorgehabt hatte, als sie gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen war. Es war widerlich und krank und alleine die Bilder seiner prägendsten Fantasie reichten, um ihr schlecht werden zu lassen. Sie hatte sich gesehen, wie er sie gesehen hatte. Ein hübsches, kleines rothaariges Mädchen, das langsam erwachsen wurde und das er benutzen konnte.
Selene schaffte es sich Michaels Griff zu entreißen und wieder auf Kain loszugehen. Aber kurz vor ihrem Ziel wurden ihre Handgelenke gepackt und ihr Kreuz donnerte gegen die Betonwand. Und diesmal war es unmöglich sich zu wehren, denn von Ethan McAlan würde sie niemals loskommen.  

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now