Oh Mann, Menschen!

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Ina hörte schon, als Flo die Wohnung betrat, das irgend etwas nicht in Ordnung war.
Sie kannte ihren Mann zu gut und hörte an seinen Schritten oder an der Art, wie er die Tür schloss, wie seine Stimmung aussah.
Also legte sie den Kochlöffel aus der Hand, mit dem sie gerade das Gulasch umgerührt hatte, und wandte sich zu ihrem Mann, der in diesem Augenblick in die Küche getrottet kam.
Er war blass und schaute finster. Die Augenringe, die in letzter Zeit lange nicht mehr so ausgeprägt waren wie früher, schienen heute wieder dunkler und tiefer zu sein.

Flo kam auf sie zu und nahm sie ohne viel Umstände in den Arm. Sie drückte sich an ihn, legte ihren Kopf auf seine Schulter und wartete ab.
Sie spürte, dass er ihre Nähe brauchte; reden würde er schon, wenn er soweit wäre. Sie drängte ihn daher nicht.

„Ach Püppi", sagte er, „Menschen können so Scheiße sein."
Sie kuschelte ihre Wange an seine.
„Wie geht's den Kiddies?", fragte Flo leise.
„Die schlafen", sagte Ina. Sie hatte die beiden Zwerge vor einer Stunde hingelegt.
Sie waren sofort eingeschlafen, der Tag war immerhin anstrengend gewesen. Toben auf dem Spielplatz macht müde.
„Hab dir lieb", sagte Flo. Dann löste er sich von ihr und ging davon in Richtung Schlafzimmer.
Ina sah ihm nach. Sie wusste, dass er das jetzt brauchte. Manchmal, wenn das Leben ihm richtig zusetzte, musste er einfach nach den Kindern schauen, sie betrachten, wie sie friedlich schliefen und sich so vergewissern, dass es ihnen gut ging. Sie kannte das. Sie war je selber manchmal auch nicht anders.

Rasch deckte sie den Tisch und goss die Kartoffeln ab. Als Flo wieder kam, war das Essen bereit.
„Sieht lecker aus", sagte er und löcheklte sie an. „Danke, Püppi."
Sie ließen es sich schmecken, doch Ina merkte, dass Flo nicht bei der Sache war. Er kaute langsam auf den Fleischstücken herum, und schließlich schob er seinen Teller zur Seite, ob wohl er noch nicht leer war.
„Tut mir leid", sagte er, „der Tag ist mir einfach auf den Magen geschlagen."
„Schon okay", sagte Ina.
Sie hatte aufgegessen, legte nun Messer und Gabel zu Seite.
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen, ich räum' hier später auf, ja?"
Flo nickte und folgte ihr, als sie aufstand und die Küche verließ.

Sie machten es sich auf dem Sofa gemütlich, Flo eng an Ina geschmiegt. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulterm und nun war er wohl bereit, zu reden.

„Menschen können echt Scheiße sein", begann er, seine Worte von vorhin wiederholend.
„Was ist passiert?", fragte sie nun doch.
„Ick hatte heute... mir is heute 'n junger Bengel vors Auto jerannt", sagte Flo.
Ina sog erschrocken die Luft ein.
„Gerade 16 Jahre alt. Wollte sich..."
Er musste es nicht sagen. Sie verstand.
„Und...?"
„Ne, hat sich nur 'n Been jebrochen. Is jetzt im Krankenhaus."
Flo seufzte.
„Und weeßte warum? Weil... er hat seinen Eltern jesacht, dass er schwul is. Und wat machen die? Schmeißen ihn raus! Du bist nich mehr unser Sohn, und so'n Scheiß. Alter, ick könnt' kotzen."

Ina hielt ihn fester.
„Ich kann nich glooben, dass Eltern so sein können..."
Flo schien wirklich erschüttert von dieser Einstellung. Und, verdammt noch mal, er hatte recht.
„Ich auch nicht", sagte sie.
„Ick könnte nie... Ina, ick könnte doch nie..."
Sie hörte Flo leise schniefen. In seine Augen waren Tränen. Sie sah sie nicht, doch sie hörte es.
„Weeßte, Püppi, die beeden schlafen so süß in ihren Bettchen. Und ick könnte einfach nich... ejal, wat ist, ob se nu, wenn se ma so weit sind, mit nem Mädchen oder nem Jungen ankommen, oder wenn sich rausstellt, dass unser Mädchen eigentlich nen Junge is, oder wat auch immer... ick hab se lieb, und ejal, wie se ihr Leben leben, das ändert doch nix da dran, weeßte?"

„Ich weiß", sagte Ina. „Mir geht's doch auch so. Ich liebe die beiden. Bedingungslos."
Flo schmiegte sich fester an sie.
„Ick versteh nich, dass Eltern ihre Kinder so weit treiben können, dass se nich mehr leben wollen... was müssen das für Menschen sein? Und denn noch aus so nem bekloppten Grund... kriegen se halt keen Schwiegertochter, sondern nen Schwiegersohn, na und?"
Ina strich ihm beruhigend mit der Hand über den Rücken.

„Flo", sagte sie leise, „du kannst solche Leute nicht ändern. Du kannst es nur besser machen und dich dafür einsetzen. Damit unsere Welt ein bisschen besser wird und es irgendwann immer weniger Leute werden, die so ... falsch ... denken. Okay?"
Flo nickte.
„Hast recht, Püppi."

Ein paar Minuten schwiegen sie in Eintracht.
Dann sagte Flo:
„Er heeßt Lukas. Ick hab in der Klinik jewartet, bis er aus 'm OP kam. Er wird wieder. Jedenfalls körperlich."
„Fährst du morgen wieder hin?", fragte Ina, doch sie kannte die Antwort schon.
„Mmhm", murmelte Flo.

„Du, Ina weeßte, wenn er aus der Klinik kommt... nach Hause jeht nich, da kann er nich hin. Da muss er dann in son Jugendheim... oder... ick dachte... vielleicht..."
Ina lächelte und nickte.
„Na klar. Ich mach das Gästezimmer für ihn zurecht, da kann er wohnen, so lange er möchte."
Flo strahlte sie an.
„Seine Schule is nich' so weit weg vom Büro. Da kann ick ihn morgens mitnehmen. Und nachmittags hol ick ihm ab, die Zeit nehm ick mir halt eenfach."
Ina küsste ihn auf die Wange und sagte:
„Also wenn er mit der S-Bahn bis zum Grünen Weg fährt, hol ich ihn von da, dann muss ich nicht in die Berliner Innenstadt gurken, und du nicht deinem hektischen Arbeitstag noch mehr Zeit abknapsen."
Flo strahlte.

„Püppi, weeßte, du bist echt die beste."
Und Flo küsste Ina. Nicht auf die Wange, sondern auf den Mund, heiß und leidenschaftlich.
„Ick liebe dir, wunderbare Frau."
„Ich liebe dich auch", sagte sie und wuschelte ihm durch die Haare.
Ja, sie liebte ihren Flo, aus so vielen Gründen.
Und an Tagen wie heute ganz besonders.

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