Naturbeobachtungen. Heute: Wehgahnchen und ihre natürlichen Feinde

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Andreas Kleistrig hatte viel über das Verhalten von Wehgahnchen gelernt.
Er hatte ja auch tagtäglich die Gelegenheit, sie zu beobachten. Wie sie miteinander spielten; wie sie sich gegenseitig bei der Fellpflege behilflich waren; wie sie aneinander gekuschelt in ihrem Körbchen schliefen; wie sie ihr Futter vertilgten.
Und da sie ihm vertrauten, war es ihm auch immer öfter möglich, sie auf ihren Streifzügen durch die Großstadtwildnis von Berlin zu begleiten.


Es war spannend, die beiden in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Sie hielten sich eng aneinander, und meist war das flinkere Jakolinchen voraus und sicherte die Gegend, während das kräftigere Felixchen seinen Freund mutig verteidigte, sollte irgendjemand oder irgendetwas ihnen zu nahe kommen.


Besonders aufregend zu beobachten waren für Andreas ihre Kämpfe mit der gemeinen Berliner Bockwurst.
Dieses gefährliche Wesen hatte sein Revier im allgemeinen in der Nähe von Erbsensuppen-Lachen, wo es täglich zu Tränke kam, oder Kartoffelsalatfeldern, die es abweidete.
Jakolinchen und Felixchen mieden normalerweise diese Gegenden. Da sie aber manchmal auf ihren Ausflügen von wandernden Schnitzelherden oder Dönerfamilien, die ihre Jungen beschützten, abgedrängt wurden, kam es gelegentlich vor, dass sie unfreiwillig dem Lager einer solchen Bockwurst zu nahe kamen.


Wehgahnchen sind von Natur aus recht friedlich.
Aber wenn sie angegriffen werden, zeigen sie ein ausgeprägtes Sozialverhalten: sie verteidigen ihre Freunde bis aufs Blut.
Als eines Tages also Andreas' Kleine einer solch bösartig grunzenden und nach heißem Wurstwasser riechenden Wurst über den Weg liefen, schob Felixchen Jakolinchen hinter sich und fauchte wütend.
Auge in Augen standen sie sich gegenüber.
Minutenlang dauerte das anstarren und anfauchen, dann ging die Wurst zum Angriff über.
Sie bespritzte die Wehgahnchen mit Senf.


War es eine Laune er Natur? Vermutlich.
War es der Weg, den die Natur in Zukunft ohnehin einschlagen würde? Nun, vielleicht.
Jedenfalls stellten Felixchen und Jakolinchen nach einem ersten Schrecken fest, das Senf, jedenfalls diese Sorte hier, wehgahn war.
Sie nahmen Erdklumpen, die sie nach der Bockwurst warfen und sie schafften es tatsächlich, sie zu verjagen.
Wütend zog das zornige Wesen ab, es schien aber einzusehen, dass es gegen zwei mutige Wehgahnchen keine Chance hatte.
Und nachdem sie sie erfolgreich in die Flucht geschlagen hatten, begannen Jakolinchen und Felixchen, sich gegenseitig hingebungsvoll sauberzuschlecken. Es war ein bezauberndes Bild, und Andreas schmolz regelrecht dahin ob dieser Niedlichkeit.


Er atmete auf. Er war froh, dass keine Notwendigkeit bestanden hatte, sich einzumischen. Seine zwei hatten die gefahrvolle Situation prima alleine bewältigt.
Dann jedoch runzelte er besorgt die Stirn.
Wehgahnchen, darüber war er sich im klaren, waren in diesem Biotop letzten Endes zugewandert. Würden sie etwa nach und nach die Berliner Bockwurst aus ihre angestammten Heimat verdrängen?
Das wäre dann doch wieder besorgniserregend...
Andreas beschloss, sich bei Gelegenheit an einen Experten zu wenden.
Nun ja, die Dinge veränderten sich eben, und wenn es so wäre, könne er es auch nicht ändern.


* * *


Einige Wochen später, als Andreas wieder mit ihnen unterwegs war, erlebte er eine gehörige Überraschung.
Wieder folgte er ihnen auf einem Streifzug, als sie sich in ein Parkgebiet ganz in der Nähe einer Pommesmine begaben.
Auch das eine Gegend, in der man durchaus auf das ein oder andere Schnitzel würde treffen können, dachte Andreas besorgt, andererseits lebte hier auch das friedliche Falafel.
Im Gebüsch bewegten sich ein paar Zweige, und heraus trat... eine Bockwurst, oder jedenfalls ein Wesen, dass einer zum verwechseln Ähnlich sah.


Andreas erwartete, seine beiden Wehgahnchen in Kampfstellung gehen zu sehen.
Doch nichts dergleichen geschah.
Im Gegenteil. Jakolinchen lief freundlich auf die Wurst zu und schmiegte sich an sie, währen Felixchen sich mit ein klein wenig mehr Misstrauen ein paar Schritte entfernt im weichen Gras lagerte.
Andreas versuchte eine Erklärung zu finden.
Wie konnte es sein, dass Wehgahnchen sich so mit ihrem natürlichen Feind vertrugen?
Er schlich näher. Felixchen hob den Kopf und entdeckte ihn.
Da er aber ein vertrauter Anblick war, bleckte es nur kurz die Zähne und legte sich wieder nieder.


Da die beiden offensichtlich mit dem menschlichen Eindringling kein Problem hatten, blieb auch die Bockwurst friedlich und entwickelte Zutrauen. Das ging so weit, dass Andreas sie schließlich streicheln konnte und dabei auch ihre Beschaffenheit und unter anderem ihren veränderten Geruch wahrnahm.
Und da ging ihm ein Licht auf: Es handelte sich um eine Mutation, nämlich eine wehgahne Bockwurst!


Sein Herz schlug ihm bis zum Halse.
Noch niemand hatte diese neue Art erwähnt!
Er, Andreas Kleistrig, er hatte sie entdeckt!
Und somit würde ihm die Ehre zu Teil werden, dieser Art oder Unterart, das würde die Wissenschaft noch herausfinden müssen, einen Namen zu geben!


Er überlegte einen Moment und beschloss, sie „Jakowurst" zu nennen, weil die offensichtliche Zuneigung der Wurst zu Jakolinchen geradezu rührend war.
„Wurstus Jakolinus Kleistrigensis". Wenn ihn seine Kenntnisse der Nomenklatur im Tierreich nicht täuschte.


Zufrieden seufzte er und machte sich auf den Heimweg.
Als die beiden süßen am Abend heimkehrten, fütterte er sie mit Rapunzelsalat, den sie mit großem Genuss verspeisten.
Er streichelte beide liebevoll und sah ihnen zu, wie sie in dem Körbchen friedlich aneinander gerollt einschliefen.


Ach ja, dachte er, die Berliner Wildnis ist jeden Tag wieder ein Abenteuer.
Und dann setzte er sich wieder an sein Laptop, um den Fachartikel zu vervollständigen, der ihm Ruhm und Ehre einbringen sollte.  

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