"Mädchen, du musst mal raus!"

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Zwei Wochen waren vergangen, seit Emma ihren Job hinter sich gelassen hatte. Sie ahnte schon, dass sie einige Anrufe von Maike oder Saskia erhalten würde und schaltete direkt nach der Kündigung ihr Handy aus, denn auf Vorwürfe und blöde Kommentare hatte sie keinen Bock.
Ohne Handy leben, damit hatte sie kein Problem, denn da erreichten sie eh nur unwichtige Anrufe. Falls was in der Familie sein sollte, könnte man sie noch über ihre Festnetznummer erreichen.
Sie lebte in den Tag hinein, der Wecker klingelte nicht mehr und sie genoss die Ruhe, die durch Vogel Gezwitscher vor ihrem Fenster abgerundet wurde. Ihr Texte Buch wurde immer voller. So eine kreative Phase hatte sie schon lange nicht mehr. Als sie sich nach dem Wohnungsputz wieder an das Schreiben machte und in Gedanken versunken aus dem Fenster starrte, wo sie die Natur beobachtete, vernahm Sie im Hintergrund das leise Summen der Tür-Klingel. "Häh? Da hat sich bestimmt einer an der Klingel getäuscht...", dachte sie sich, als es kurz darauf ein zweites Mal klingelte. Verdutzt machte sie sich auf den Weg in den Flur, nahm den Hörer von der Gegensprechanlage ab und stammelte leise: "Hallo?".
"Mensch, mach doch Mal die Tür auf! Ich bin es Nico!", dröhnte es ihr ins Ohr.
Nach kurzer Bedenkzeit drückte sie auf den Türöffner und überlegte sich, was Ihr Bruder von Ihr will. Zum überlegen war genug Zeit, während sich Nico die sechs Etagen ohne Fahrstuhl schnaufend hoch kämpfte.
Hoffentlich ist nichts mit Oma oder Opa passiert, dachte sie sich.

"Ich hoffe du lässt mich jetzt auch rein!", Stammelte Nico luftschnappend auf den letzten fünf Stufen. Emma schaute Ihn an, machte die Tür bis zum Anschlag auf und ging wortlos ins Wohnzimmer.
Ihr Bruder hatte sich ganz schön geändert, nachdem Sie sich ein Jahr nicht gesehen haben. Er hat abgenommen, trug teure Markenkleidung, die Kurzhaarfrisur war auch neu.
"Gut siehst du aus! Und die teure Kleidung, deine Plattenfirma scheint zu laufen.", sprach sie Nico an, während er es sich auf Emma's Schlafcouch bequem machte.
Er grinste nur etwas überheblich.
"Was machst du hier?", fragte Emma, denn ihr Bruder war noch nie in ihrer Wohnung, geschweige denn in diesem Bezirk. Er hält nicht viel von Randbezirken, schon garnicht von dem in dem Emma wohnte, er denkt hier sei es gefährlich und kriminell. Ein typisches Schubladen Denken hatte Nico. Sie stellte ihm ein Glas Cola auf den Tisch und setzte sich zu Ihm.
"Mama macht sich Sorgen, du meldest dich nicht mehr und hast nur noch dein Handy aus!", Fing er an zu reden. Emma unterbrach ihn genervt: "Sie hat doch meine Festnetznummer und das Telefon ist an! Ich verstehe nicht wieso sie, wenn sie sich Sorgen macht, nicht anruft. Und dann schickt sie sich hier her? Du hast doch bestimmt hier Angst um dein teures Auto draußen auf dem Parkplatz!"
Nico nippte an seiner Cola und versuchte zu schlichten: "Ich weiß, wir haben nicht das beste Verhältnis, aber du bist immer noch meine kleine Schwester und wenn Mutter sagt, du meldest dich bei keinem mehr, muss ich doch gucken was los ist. Ob sie sich nicht bei dir selber gemeldet hatte, kann ich nicht wissen."
Etwas berührt von dieser Aussage, versuchte Emma ihre Tränen zu unterdrücken, das allerdings mit wenig Erfolg. Die ersten Krokodilstränen kamen aus ihr raus geschossen.
Unfreiwillig aber liebevoll umarmte Nico sie, sowas kannte Emma von ihrem Bruder nicht. Noch nie hat sie eine Umarmung von ihm bekommen, vielleicht das letzte Mal vor 16 Jahren, wo die Welt zwischen den beiden noch in Ordnung war. Die beiden hatten auch nie Streit, sie waren nur zu unterschiedlich und entfernten sich mit der Zeit voneinander.

"Mädchen, du musst Mal raus aus der Bude hier, zieh dich an, wir gehen Eis essen! Da reden wir dann mal auf neutralen Boden über alles!", sagte Nico ruhig aber bestimmend.
Ohne Wiederworte zog sich Emma etwas an, womit sie draußen nicht alle Leute verschrecken würde und stieg in Nico's neuen teuren Wagen. Bei Eis kann sie einfach nicht nein sagen und das wusste ihr Bruder auch.
Wieder wiederholte sie sich: "Scheinbar läuft es wirklich bei dir, wenigstens auf einen von uns beiden kann Mutti stolz sein!"
"Erzähl nicht immer so einen Quatsch, Mama ist auf uns beide stolz, da weißt du auch!", entgegenete er etwas angesäuert.
Die restliche Fahrt schwiegen sich beide an.
In der Eisdiele angekommen bestellte Nico direkt den richtigen Eisbecher für Emma, sie wunderte sich: "Du weißt noch, dass ich Pfefferminzeis mag?" Er lachte: "Meinst du sowas vergesse ich? Solche perversen Geschmacksrichtungen kannst doch nur du lieben!" Sie grinste. Es tat ihr sichtlich gut, Mal aus ihren vier Wänden raus zu kommen und andere Sachen zu sehen.
Emma öffnete sich ihren Bruder, was sie selber überraschte, denn so offen ist sie eigentlich nie, auch nicht gegenüber ihrer Familie. Lieber kämpft sie sich alleine durchs Leben und möchte andere nicht mit ihren Problemen belasten.
"Weißt du, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Scheinbar bin ich potthässlich, ich hatte immer noch keinen Freund, ich habe meinen zweiten Job, wie auch schon meine Ausbildung wegen Mobbing verloren, weil ich einfach nicht meinen Mund auf kriege und alles mit mir machen lasse und Freunde habe ich schon lange keine mehr.", erzählt Emma deprimiert ihren Bruder, während sie in ihrem Eisbecher mit dem Löffel rumstocherte.
Sichtlich mitgenommen gucke Nico sie an: "Ich hatte ja keine Ahnung wie es um dich steht, es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war. Aber irgendwie werde ich dir helfen wieder auf die Sprünge zu kommen, das verspreche ich dir hoch und heilig!"
"Wie willst du mir denn helfen? Willst du mich bei Schwiegertochter gesucht anmelden? Denn da passe ich ja rein.", entgegenete Emma ihn.
Er schaute sie böse an: "Hör jetzt auf mit diesem Scheiß, du bist nicht hässlich! Du bist moppelig, na und? Es gibt genug Männer, die auf Rundungen stehen! Und ein wenig Selbstbewusster bekommen wir dich auch, damit du dich auch Mal durchsetzt und nicht immer das schwache Mobbingopfer bist!"
Emma starrte auf den Tisch. Solche kritischen Worte waren ihr von ihrem Bruder auch neu.
Nach einer kurzen Pause des Schweigens fuhr Nico fort: "Hast du noch Lust einen Film zu schauen? Wir bestellen uns eine Pizza und schieben uns eine DVD rein!"
Emma nickte und empfand es als sehr erfrischend Mal wieder etwas anderes zu erleben.
Bei ihr angekommen, ging Nico in die Küche um etwas zu Trinken zu holen, während Emma sich auf der Toilette wieder in ihre rosa Jogginghose schmiss. Er entdeckte auf der Fensterbank ihr altes Buch, in das sie ihre Texte und Reime schrieb. Sie schrieb gerne in der Küche am Fenster. Er blätterte darin Rum und laß sich amüsiert ihre Reime durch, während Emma mit einem lauten "Hey! Pack das weg!" In die Küche kam.
Ihre Texte sind für sie ein Heiligtum und eigentlich nur für sie gedacht.
Nico machte nicht ansatzweise das was Emma ihm sagte und blätterte weiter mit den Worten: "Hast du das gemacht?" Sie riss Ihm Ihr Buch aus den Händen: "Das geht dich garnix an!"
Nach einigen Minuten beruhigte sich die Situation wieder, weil die Vorfreude auf die Pizza und der eingeschobene Film jetzt im Vordergrund standen.
Nico war nicht ganz bei der Sache und überlegte sich, wie er seiner Schwester auf die Sprünge helfen konnte und immer wieder huschten Ihm ihre Texte durch den Kopf.
Emma war während dessen schon eingedöst, als sie aus dem Schlaf gerissen würde, weil er auf einmal laut sagte: "Ich weiß, wie ich dir helfen kann! Ich werde erstmal nach Hause fahren alles organisieren und in den nächsten Tagen melde ich mich bei dir! Lass dich nicht hängen, wir kriegen das schon hin!"
Emma rappelte sich auf um Ihren Bruder an die Wohnungstür zu begleiten. Sie verabschiedeten sich und als sie es sich gerade wieder bequem machte, klingelte es wieder an ihrer Tür. Sie lauschte an der Gegensprechanlage: "Mach dein Handy an, sonst kann ich dich nicht erreichen!", dröhnte es Ihr entgegen. "Was hast du vor?", Fragte sie Ihn, doch es war nur noch Stille zu hören. Er war schon gegangen.
"Sowas kann ich ja leiden... Er plant irgendetwas mit mir und bezieht mich aber nicht ein...", Säuselte Emma vor sich hin, während sie Ihr Handy einschaltete.
In den nächsten Minuten kamen unzählige Nachrichten bei ihr an, hauptsächlich von Saskia und Maike, die sie nur anklickte, damit sie als gelesen markiert da stehen. Sie schrieb ihren Bruder: Spann mich bitte nicht zu lange auf die Folter, du weißt, ich hasse sowas. Danke, dass du da warst, es war ein schöner Tag. P.S. Handy ist an.
Er laß es, antwortete aber an diesem Tag nicht mehr.

Bitte einfach nicht wecken (Alligatoah FF) #Wattys2019Where stories live. Discover now