Captain Curly

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Sherlock hatte seit Tagen kein Wort gesprochen. Natürlich sorgte sich John. Diese ganze Nummer mit Soziopath und so weiter war doch ohnehin lächerlich. Ein Schutzmantel, den Sherlock trug. Eine Rüstung. Aber nicht für einen Fünfer Wahrheit dabei.

Nein, Sherlock litt. Und John, der ihn von Herzen liebte, litt mit ihm.
Wenn Sherlock doch nur reden würde. Sich alles von der Seele reden. Aber John wusste, dass man Sherlock nicht dazu drängen konnte. Je mehr man das versuchte, desto mehr würde er sich sträuben und zurückziehen. Er war ein Dickschädel, das ließ sich nicht ändern.

John seufzte. Er ergriff sanft Sherlocks Hand, während sie langsam hinter Sherlocks Eltern her den Hauptweg des Friedhofes entlang zum Ausgang schritten. Die Hand war kalt. Und das sicher nicht nur wegen des Wetters, das klischeehaft grausig war: Grau in grau, ein schneidend kalter Wind fegte über den Friedhof. Die Wolken sahen aus, als würden sie jeden Moment ...
Und richtig, gerade als John und Sherlock das Auto erreicht hatten, das sie abholte, begann es zu regnen. Nein, zu hageln.

Im Auto war es warm. John zögerte einen Augenblick. Blickte zu Sherlock und entschied dann, nicht mit zu dem Restaurant zu fahren, wo das Totenmahl stattfinden sollte.
„Baker Street 221 B", sagte er zum Fahrer.
Sherlock sah ihn an, überrascht, dann dankbar.
Er legte seinen Kopf auf Johns Schulter.
Schloss die Augen.
„Deine Eltern werden es verstehen", sagte John leise.

Das Auto setzte sich in Bewegung.
John hörte Sherlocks Atem, unregelmäßig, als würde er ein Schluchzen unterdrücken ... in all den Jahren hatte Sherlock nur einmal geweint. Damals bei ihrer Trauung. Aber das waren Tränen der Freude gewesen.
Vorsichtig drehte John den Kopf und schaute zu seinem Mann.
Tatsächlich.Ein paar Tränen liefen über Sherlocks Wangen.

Und dann hörte John ganz leise Sherlocks Stimme.
„Ich habe ihn geliebt, John."
Nun, das wunderte John nicht. Die beiden Brüder hatten sich immer angefaucht wie zwei wütende Kater. Aber ... wer sie näher kannte wusste, dass das eine Fassade war, hinter der sich tiefe Zuneigung versteckte.
„Als ich klein war", fuhr Sherlock fort, „war er mein großer Held. Ich hatte einen großen Bruder, und der konnte alles. Davon war ich fest überzeugt."
Sherlock schniefte.
„Unsere Eltern haben damals viel gearbeitet, waren oft aus dem Haus. Mycroft hat mir alles beigebracht. Das erste Wort. Es war im übrigen 'Konfrontationskurs'."
Wieder ein Schniefen.
„Meine ersten Schritte habe ich an seiner Hand gemacht. Das erste aufgeschlagene Knie hat er versorgt. Ich weiß es noch wie heute, es waren Pflaster mit roten Herzchen drauf. Aus irgendeinem Grund wollte ich nur diese und keine anderen. Er hat mich gelehrt, wie man eine Schleife bindet. Wie man mit Messer und Gabel isst. Wie man seine Jacke zuknöpft."

Sherlock wandte sein Gesicht zu John.
„John, wie soll ich es nur ertragen, dass er jetzt nicht mehr ... hier ist ..."
Und nun begann er zu weinen. Tränen liefen, und das Schluchzen war nicht mehr aufzuhalten. John nahm ihn fest in den Arm. Mehr konnte er nicht tun, aber er würde tun, was in seiner Macht stand, um seinem Mann den Schmerz zu erleichtern.
Sanft küsste er Sherlocks Stirn.
Dann reichte er ihm ein Taschentuch.

„Er hat mit mir gespielt, wann immer er Zeit hatte. Als ich noch klein war, konnte ich es immer kaum abwarten, bis er seine Schulaufgaben erledigt hatte. Dann hatte er nämlich Zeit für mich.
Wir waren Piraten."
Ein leises, wehmütiges Lächeln schlich sich auf Sherlocks Lippen.
„Ich war der große Captain Curly und habe die Weltmeere erobert. Ihn habe ihn, den Forschungsreisenden Professor Gingerhead, gefangen genommen, aber er hat sich mir immer schnell angeschlossen und hat mich in meinem Eroberungen unterstützt. Gemeinsam haben wir dann die Schiffe der Reichen erobert und alles an arme Leute verteilt."

John konnte nicht anders. Er musste schmunzeln.
Die Vorstellung von einem jugendlichen Mycroft, der gemeinsame Sache mit Captain Curly macht, war einfach zu goldig.
„Er hat mir ein Baumhaus gebaut – das war der Ausguck meines Schiffes. Und weißt du wie mein Schiff hieß?"
John schüttelte den Kopf.
„Es war die 'Jolly John'."
Ein leichtes Kichern entkam John. Schnell legte er die Hand vor den Mund. „Sorry, Sherlock..."
„Schon gut", sagte Sherlock. „Es tut gut, sich an diese Dinge zu erinnern, mein Herz tut dabei nicht mehr ganz so sehr weh."
John nickte. „Diese Erinnerungen werden dir immer von ihm bleiben. Er wird immer ein wichtiger Teil deines Lebens bleiben."
Sherlock legte den Kopf wieder auf Johns Schulter.

„John?", fragte er nach einer Weile.
„Ja, Darling?"
„Wird ... wird es irgendwann leichter?"
John nahm sich einen Augenblick Zeit bis er antwortete.
„Nun, eigentlich nicht. Es ist nur so, dass es ein wenig verblasst. Du wirst nicht mehr in jeder Minute daran denken, dass du ihn verloren hast. Manchmal wirst du lange Zeit nicht daran denken. Und dann kommt wieder ein Moment, wo es dich so richtig packt und dann tut es genau so weh wie jetzt."
Sherlock war dankbar, dass John ihn nicht belog mit irgendwelchen beschwichtigenden Phrasen.

„Es wird also Zeiten geben, wo ich nicht an ihn denke?", Sherlock klang ungläubig.
„Nein, so habe ich das nicht gemeint", sagte John. „An ihn wirst du sehr häufig denken. Aber an die schönen und guten Dinge, du mit ihm verbindest. An den Verlust denkt man mit der Zeit weniger."
Sherlock nickte. Das klang nachvollziehbar.


„John", sagte er nach ein paar Minuten. „Ich glaube, ich möchte, dass wir doch zu dem Restaurant fahren. Ich wäre jetzt viel lieber mit dir allein zu Hause. Aber ich denke ich sollte jetzt meine Eltern unterstützen. Und Gregory."
John sah ihn überrascht und erfreut an.
„Als wir noch jung waren, war Mycroft für mich da", sagte Sherlock leise. „Egal wie schlecht es ihm ging. Er hatte es nicht leicht in der Schule, aber wenn er mit mir zusammen war, habe ich davon nie etwas gespürt. Da war er ein fach nur für mich da."
Er schloss die Augen und atmete tief durch.

„Gut", sagte John. Dann klopfte er an die Scheibe und bat den Fahrer, den Wagen doch zum Restaurant zu lenken.
Er schaute auf seinen Mann und dachte:
'Mycroft hat dich mehr gelehrt als Laufen und Schleifen binden'.

Und voller Liebe lächelte er Captain Curly an, dessen Kopf mit geschlossenen Augen und einem leisen Lächeln auf seiner Schulter ruhte.

Sherlock BBC One-shotsWhere stories live. Discover now