Womit hatte sie das alles nur verdient?

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Da lag er nun. Ihr Greg.
Detektiv Inspector Gregory Lestrade, angeschossen im Dienst.
Sie saß auf einem Stuhl an seinem Bett, betrachtete sein bleiches Gesicht und seufzte.

Der Tag war eine einzige Hölle gewesen.
Schon am Morgen hatte sie einen heftigen Streit mit Tom gehabt. Sie und Tom passten einfach nicht zusammen. Freiwillig wäre sie auch nie mit ihm zusammen gezogen. Er war eigentlich nur für ein bisschen Spaß im Bett gedacht gewesen. Und ja, er war nicht der erste gewesen.
Aber dann hatte Gregory sie mit ihm erwischt, auch das war nicht das erste mal gewesen, und hatte sie vor die Tür gesetzt.
Anders als zuvor hatte er sie jedoch nicht nach ein paar Tagen gebeten, zurück zu kommen um es noch einmal miteinander zu versuchen. Und so hatte sie keine andere Wahl gehabt, als aus dem Hotelzimmer, das sie gemeinsam mit ihrer Tochter vorübergehend bewohnt hatte, auszuziehen und in Toms kleine Wohnung zu ziehen.

Es war von Anfang an katastrophal gewesen.
Tom konnte ihr einfach nicht das bieten, was sie gewohnt war.
Gregory hatte sie verwöhnt und auf Händen getragen. Sie hatten gemeinsam das wunderschöne Haus bewohnt, in dem er aufgewachsen war. Er hatte als DI nicht schlecht verdient. Sie selber hatte nicht arbeiten müssen, wenngleich Gregory sie dabei unterstützt hätte. Aber sie wollte das gar nicht, sie hatte zwar studiert, doch sie genoss das Leben als Gattin zu sehr, um sich mit den Erfordernissen des Berufsalltags herumzuärgern. Die Betreuung ihrer Tochter und die Führung des Haushalts hatten ihr genug abverlangt, aber Gott sei Dank hatte es immer wechselnde Au Pairs gegeben, die ihr die Arbeit abnahmen.
Tom konnte ihr das alles nicht bieten. Er hatte nur eine winzige Wohnung, in der nun auch sie und ihre Tochter lebten, und ein schmales Gehalt.

Um Gregory zum Einlenken zu bewegen, hatte sie sich geweigert, ihre inzwischen 15 jährige Tochter ihn besuchen zu lassen. Daraufhin hatte Greg sich geweigert, Unterhalt zu zahlen und gesagt, dann solle sie doch vor Gericht gehen. Jacky, ihre Tochter wiederum, hatte nichts auf ihre
Weigerung gegeben und ihren Vater trotzdem immer wieder besucht.
Das alles zusammen gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie wollte zurück zu Greg, zurück in ihr altes Leben. Denn immerhin hatte sie als Gattin eines der besten DIs von New Scotland Yard auch etwas gegolten.

Und nun lag Greg hier, blass, verletzt, hilfebedürftig.
Sie würde sich besorgt zeigen.
Würde ihm zeigen, dass sie ihn ganz furchtbar liebte und so schrecklich vermisst hatte.
Sie würde für ihn da sein, ihn gesund pflegen, sich um ihm kümmern.
Nun ja, Lust hatte sie im Grunde genommen nicht, für Greg die Krankenschwester zu spielen. Aber wenn es notwendig war, um ihre Ehe und damit ihre Stellung in der Gesellschaft zu retten, dann würde sie es tun.

In dem Augenblick ging hinter ihr die Tür auf, laut und geräuschvoll, und ihre Tochter stürmte ins Zimmer.
Ohne sie zu beachten, lief das Mädchen zum Bett ihres Vaters und griff nach seiner bleichen Hand.
"Papa!", flüsterte es und sah ihn mit großen Augen an.
Hinter Jacky war ein Mann in das Zimmer getreten. Groß, schlank, in einem dreiteiligen Anzug und einem eleganten Mantel gekleidet, mit einem Schirm in der Hand.
Sie hatte keine Ahnung, wer das war, aber sie beachtete ihn auch nicht weiter. Sie wandte sich ihrer Tochter zu.
"Was machst du hier?! Du müsstest doch jetzt in der Schule sein!"
Jacky sah sie entsetzt an.
"Papa ist schwer verletzt! Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?"
Dann drehte sich das Mädchen wieder zu seinem Vater.

"Das ist allerdings eine sehr gute Frage", ertönte eine sonore Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um. Der große, schlanke Mann hatte es ausgesprochen.
"Ach. Und wer sind Sie und warum meinen Sie, dass Sie das irgendetwas angeht?", antwortete sie in schnippischem Ton.
"Mycroft Holmes. Ich bin ein Freund von Gregory. Und ich denke, Jacky hat ein Recht darauf, informiert zu werden. Sie liebt ihren Vater und natürlich möchte sie Bescheid wissen, wenn ihm etwas passiert."
Jacky drehte sich um und warf sich diesem Fremden, Mr. Holmes, in die Arme.
"Myc, bitte, Papa wird doch wieder gesund?"
"Ja, kleines, er kommt wieder in Ordnung."

Ihr blieb fast die Spucke weg. Was zum Teufel geschah hier?
Sie stand auf.
"Wer auch immer Sie sind. Sie lassen jetzt meine Tochter los und verlassen dieses Zimmer. Ich werde mich um meinen Mann kümmern."
"Mit Sicherheit nicht", sagte dieser Mr. Holmes.
"Papa braucht dich nicht. Myc kümmert sich um ihn", sagte Jacky wütend.
"Ach, und warum sollte er das tun?"

In diesem Augenblick kam eine leise Stimme aus Richtung des Bettes.
Gregory.
"Weil dieser Mann eben nicht nur ein Freund ist. Er ist mein Lebensgefährte, der Mann, den ich liebe und den ich gerne heiraten möchte, wenn du die Scheidungspapiere unterschrieben hast. Und wenn er es auch möchte."
Mycroft schluckte. "Gregory ... ja!"

"WAS?", fuhr sie auf ihren Mann los.
"Bist du jetzt auf einmal schwul?"
"Gregory war schon immer bisexuell. Aber da er in seiner Ehe mit Ihnen treu war, spielte es einfach keine Rolle, nicht wahr?"

Was dieser Kerl sich erdreistete. Sie sah zu Gregory, der jedoch hatte ermattet schon wieder die Augen geschlossen.
"Jacky", sagte sie wütend, "komm, wir gehen!" Und sie hatte vor, hoch erhobenen Hauptes aus dem Zimmer zu rauschen.
"Nein." Ihre Tochter verschränkte die Arme vor der Brust.
"Ich bleibe hier."

Sie schluckte. Sie kochte vor Wut. Aber Jacky wirkte zu allem entschlossen, daher blieb ihr nichts, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
"Gut", sagte sie. "Aber bilde dir nicht ein, dass ich dich nachher abhole."
"Das müssen Sie nicht", sagte Mr. Holmes. "Ich bringe Jacky, wohin sie möchte."
"Darf ich bei dir übernachten?", fragte das Mädchen.
"Selbstverständlich", sagte Holmes.
"Das kommt nicht in Frage", zischte sie aufgebracht. Wie konnte ihre Tochter ihr nur so in den Rücken fallen!
"Oh doch, Mama."
Jackys Augen blitzten.

"Und soll ich dir noch was sagen? Ich kenne Myc schon eine Weile und habe ihn verdammt gerne. Er kümmert sich um Papa. Immer. War für ihn da als es ihm dreckig ging, weil du ihn betrogen hast. Ohne etwas dafür zu erwarten. Das war der Grund, weshalb Papa sich in ihn verliebt hat."
Jacky schniefte.
Mycroft schloss die Augen. Eine Welle tiefer Zuneigung überrollte ihn.

Das Mädchen fuhr fort.
"Und wenn es zur Frage des Sorgerechts kommt, und der Richter mich fragt - und ich bin alt genug, er wird mich mit Sicherheit fragen - dann werde ich sagen, dass ich bei Myc und Papa bleiben will."
"Was?", schnappte sie. "Bei zwei schwulen Männern?"
"Bei meinem Vater und seinem Lebensgefährten, die mich beide mehr lieben und mehr unterstützen, als du das je getan hast."
"Und glauben Sie mir", sagte Holmes, "die Chancen, dass Ihre Tochter bei uns wohnen darf, wenn sie das wirklich will, stehen sehr gut."
Sie verließ das Zimmer. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sollte sie jetzt tatsächlich alles verlieren? Na wenigstens hatte sie noch Tom.

Ihr Handy summte.
Eine Nachricht von Tom.
"Ich habe dir ein Zimmer in Winston's Hotel gebucht und deine und Jackys Sachen dorthin schaffen lassen. Komm bitte nicht zu mir zurück."

Jetzt stand sie wirklich vor dem Nichts.
Womit hatte sie das alles nur verdient?

Sherlock BBC One-shotsحيث تعيش القصص. اكتشف الآن