Juni in London

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Die Nacht war heiß gewesen. Und das in mehrfacher Hinsicht.
Sie hatten sich bis in den frühen Morgen geliebt. Und dabei war es heiß her gegangen. Sherlock war sehr leidenschaftlich, und er, John, ließ sich von dieser Leidenschaft mitreißen.
Außerdem vollbrachte dieser Juni auch mitten in London wahre Wunder: es war heiß wie im Hochsommer. Trotz des offenen Fensters stand die Luft in ihrem Schlafzimmer und es war stickig und schwül.
John war erwacht, weil ihm so warm war. Selbst das dünne Laken, das ihnen als Decke diente, hatte er sich von den Beinen gestrampelt und dennoch war er schweißüberströmt.
Er war aufgestanden und stand nun hier, nackt und verschwitzt, und hatte den Kopf an die kühle Fensterscheibe gelehnt. Es war noch ganz früh morgens, unten auf der Straße war noch niemand zu sehen und Sherlock lag noch hinter ihm im Bett und schlief.

Er hörte hinter sich, wie Sherlock begann, sich in den Laken zu bewegen.
Ein herzhaftes Gähnen ertönte.
„Guten Morgen, John."
John lächelt und drehte sich zu Sherlock um. Sherlocks Blick begann, an ihm auf und ab zu wandern.
„Manchmal kann ich einfach gar nicht glauben, dass wir miteinander verheiratet sind", klang Sherlocks tiefe, herrliche Stimme.

John lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten und sich ein dicker Kloß in seinem Magen bildete.
Das war er also.
Der Moment, vor dem er sich schon so lange gefürchtet hatte.
Der Moment, in dem Sherlock sich fragte, warum zum Teufel er das getan hatte – John zu heiraten.
Der Moment, in dem er begann, sich mit ihm zu langweilen.
Der Moment, wo er versuchen würde, John klarzumachen, dass das ganze ein Fehler gewesen war, es vielleicht als ein Experiment abtun würde, und voller Erstaunen sein würde, weil John es nicht als ein solches erkannt hatte ...
„Das ist doch offensichtlich, John", würde er sagen, und: „Wie ist das mit so komischen kleinen Gehirnen, die so etwas offensichtliches nicht erkennen? John, also wirklich ... ich hätte dich für einen weniger großen Idioten gehalten ..."
Das, oder etwas ähnliches.

Er drehte sein Gesicht wieder dem Fenster zu und merkte, wie er zitterte. Sein Herz zog sich zusammen. Das war nun also der Tag, an dem es zu Ende gehen würde.
Es war wie ein Traum gewesen, sein großer Traum. Er liebte Sherlock aus tiefstem Herzen und hatte jede Sekunde mit ihm genossen.
Als Sherlock auf seine Frage: „Willst du mich heiraten?" mit „Ja! Oh, John, ja!" geantwortet hatte, hatte er kurzzeitig geglaubt, er sei eigentlich ins Koma gefallen und würde so etwas wie Halluzinationen erleben.
Er hatte von vornherein geahnt, dass Sherlock sich früher oder später langweilen würde.
Er hatte beschlossen, jeden Moment zu genießen, solange es eben währte und nicht über das Ende nachzudenken.

Aber nun war es da.
Er drehte sich um, kämpfte mit den Tränen, die in seinen Augen schwammen und sagte leise:
„Ich werde ... so bald wie möglich ausziehen."

* * *

Sherlock hatte gespürt, dass seine Worte irgendetwas bei John ausgelöst hatten, aber er hatte nicht begriffen, was. Irgendetwas stimmte nicht, und er hatte keine Ahnung, worum es ging.
John schien sich am ganzen Körper zu verspannen, zu zittern.

Lag es ... lag es vielleicht daran, dass er es inzwischen bereute, mit ihm, Sherlock, verheiratet zu sein?
War jetzt also der Moment gekommen, wo John merkte, dass es ein Fehler gewesen war? Dass er etwas soviel besseres, jemand so viel besseren verdiente, als nun ausgerechnet Sherlock? Den selbsternannten hochfunktionalen Soziopathen, der zwar ein hochintelligentes Hirn besaß, aber einem Mann wie John doch sonst nicht viel zu bieten hatte?
Er war unhöflich, unfreundlich; er beschimpfte Lestrade, verletzte Molly, ja selbst Mrs. Hudson ... der Freundeskreis, den sie besaßen, war eigentlich Johns Freundeskreis.
Immer wieder kam es vor, dass John genug von ihm hatte und mit Stamford oder Lestrade in den Pub ging, um sich den Ärger über Sherlock von der Seele zu reden.
Es tat ihm in diesem Augenblick so leid, aber es war wohl zu spät.

Selbst nach der Hochzeit hatte er John die komplette Hausarbeit aufgehalst. Hatte immer noch die selben schlechten Gewohnheiten an den Tag gelegt was essen und schlafen anging und hatte ihm damit viele Nerven geraubt.
Hatte seinen Tee mit bewusstseinserweiternden Substanzen versetzt, zu experimentellen Zwecken.
Hatte seine Pullover verbrannt, sein Laptop ungefragt genutzt, sein Passwort geknackt ... immer wieder.
Kein Wunder dass John genug hatte.

„Ich werde ... so bald wie möglich ausziehen ..." sagte John in diesem Augenblick und Sherlock nickte nur, während ihm Tränen aus den Augen liefen. Und:
„Ich werde so lange mein altes Schlafzimmer nutzen, und dich nicht belästigen ... du musst dir keine Sorgen machen ..."

Moment, was?
Sherlock schaute auf und sah ... auch John weinen.
„John, was ist hier los?! Also ich will nicht, dass du ausziehst, aber ..."
John hatte sich blitzschnell zu ihm umgedreht bei seinen Worten. „Was?!"

Sie sahen sich an.
Dann begann John zu reden.
„Aber ... du ... hast gesagt, du könntest nicht glauben, dass wir ernsthaft verheiratet sind ..."
„Ja", flüsterte Sherlock, „ich kann es nicht glauben, dass du mich immer noch aushältst ... mich noch immer willst ..."
„Aber ich will dich, Sherlock, mit jedem Tag mehr!"
„Oh, John, ich will dich auch! Ich habe noch nie im Leben etwas so sehr gewollt, wie dich!"

„Du willst also gar nicht, dass ich ausziehe?"
„Nein, John, höchstens, dass du dich ausziehst ... nein, warte, du bist ja schon nackt ..."
Er küsste John, und in den nächsten Stunden stieg die Temperatur im Schlafzimmer noch mal beträchtlich an, und das lag nicht nur an der Sonne, die auch heute wieder mit voller Kraft vom Himmel strahlte.

„Manchmal bin ich ein ganz schöner Idiot", flüsterte John einige Zeit später in Sherlocks Armen.
„Stimmt", sagte sein Ehemann grinsend.
„Aber weißt du was? Das großartige Gehirn eines Sherlock Holmes bewahrt mich manchmal nicht davor, selber auch einer zu sein."
Sie grinsten sich an und lachten ein befreiendes fröhliches Lachen.

Sherlock BBC One-shotsWhere stories live. Discover now