Zweite Wahl

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             1. Zweite Wahl         

Der Abend war sehr schön gewesen. Sie hatten ein köstliches Essen genossen und einen guten Wein getrunken.
John fühlte sich wohl, er mochte es, Zeit mit Mary zu verbringen.
Seine Hand strich über ihre Hand, doch er spürte, wie sie sich verkrampfte.
Er sah auf.
Sie lächelte, doch er erkannte in ihrem Lächeln noch etwas anderes.
Was war es?
Traurigkeit? Vielleicht.
So etwas wie Enttäuschung... ja.
Er seufzte.

"Mary, ich... es tut mir leid, dass ich dir nicht geben kann, was du dir wünschst."
Mary sah ihn mit ihrem lieben Gesicht an.
"Mary, du bist eine wunderbare Frau. Ich bin sehr gerne mit dir zusammen. Es ist schön, mit dir zu lachen und zu reden. Und ich genieße auch unsere Zärtlichkeiten."
Er nahm wieder ihre Hand.
"Aber ich kann dir keinen Antrag machen. Mary, ich war von Anfang an ehrlich zu dir."
Sie nickte.
"Du denkst immer noch an Sherlock?"
"Ja."
Sie schwiegen einen Augenblick.

"Mary, ich habe dir nie verschwiegen, dass ich bisexuell bin, und ich habe dir auch nie verschwiegen, dass ich Sherlock geliebt habe. Er war die Liebe meines Lebens. Nein, eigentlich ist er das immer noch. Das einzige, was ich daran bedauere, ist, dass ich nie die Gelegenheit hatte, es ihm zu sagen. Nein, das stimmt so nicht, Gelegenheit hätte ich gehabt, aber ich habe den Mut nicht gefunden. Ich war zu feige."
Er nahm einen Schluck Wein.
"Ich habe mir geschworen, Mary, nie wieder feige zu sein und von jetzt an immer ehrlich zu meinen Gefühlen zu stehen."
Er holte tief Luft.
"Mary, wenn es Sherlock nicht gegeben hätte, könnten wir vielleicht glücklich miteinander werden. Aber so wirst du immer meine zweite Wahl sein. Und das hast du nicht verdient."
Wieder schwiegen sie.

"Naja," sagte Mary dann. "Zweite Wahl aus mehreren Milliarden Menschen, das ist immerhin auch schon etwas, oder?"
"Mary, ich würde dich nie so sehr lieben können, wie ich Sherlock geliebt habe. Das weißt du."
"Ja, John. Aber Sherlock ist tot und kommt nie mehr wieder."
John fühlte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Es tat weh, wenn es so ausgesprochen wurde.
"John," fuhr Mary fort, "wenn es Sherlock noch geben würde, würde ich gehen und mich mit meiner zweiten Wahl begnügen. Aber es gibt ihn nicht mehr."
Sie sah ihn liebevoll an.
"John, ich liebe dich aus tiefstem Herzen. Und ich liebe dich unter anderem dafür, dass du so ehrlich zu mir bist. Du hast mir von Anfang an nichts vorgemacht. Was hast du denn zu verlieren? Ein Leben in Einsamkeit. Statt dessen biete ich dir ein Leben an der Seite der Frau, die dich so liebt, wie du bist."
John schluckte. Er wusste nicht, was er antworten sollte.
"Stell, dir vor," begann Mary Bilder der Zukunft zu malen. " Wir hätten ein Häuschen am Stadtrand. Ich würde dir ein Kind schenken, vielleicht auch zwei. Wir hätten einen kleinen Garten. Und einen Hund, wenn du möchtest. Einen Labrador."

"Mary, ich möchte gerne einen Augenblick vor die Tür. Ich möchte eine Zigarette rauchen."
"Aber John, du rauchst doch gar nicht!"
"Stimmt," sagte John und lächelte. "Aber ich brauche mal fünf Minuten für mich."
Er ging also vor die Tür des Lokals. Dort stand er und hing seinen Gedanken nach.
Ein Haus, Kinder, ein Labrador.
Und Mary.
Es klang wie ein wunderbares Märchen.
Und es klang gleichzeitig wie ein Hölle aus Langeweile.
Er mochte Mary, aber sie war nicht Sherlock.
Andererseits hatte sie Recht. Die Alternative wäre ein Leben in Einsamkeit. Ein Alt werden ohne Partner. Und Sherlock würde nun mal nicht wieder kommen, so sehr er sich das auch wünschte.
Also fasste er einen Entschluss.

Er ging zurück ins Lokal, setzte sich an den Tisch und nahm Marys Hände.
"Mary," bat er leise, "würdest du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?"
Marys Augen begannen zu strahlen.
"Ja, John. Von Herzen gern."
John nahm ihre Hände an seinen Mund und küsste sie zärtlich.

Ein Kellner trat an ihren Tisch.
"Wünschen Sie, dass ich noch Wein nachschenke, Sir?"
"Nein," sagte John, den Blick weiterhin Mary zugewandt.
"Mary, dann bitte ich dich, nächste Woche wieder um die gleiche Zeit hier zu sein. Ich werde Ringe besorgen, die deiner würdig sind."
Mary strahlte immer noch.

Der Kellner räusperte sich.
"Entschuldigen Sie, Sir, aber es wird nicht möglich sein, nächste Woche für Sie einen Tisch zu reservieren."
"Was?!"
John wandte sich erstaunt dem Kellner zu.
Seine Gesichtszüge entgleisten.
Er sprang auf. Er Rang um Atem und Fassung.
Er spürte, wie er rot anlief.           
Mehrere Male setzte er zum Sprechen an, bevor es ihm gelang,
Dann schrie er geradezu: 
"Sherlock!"
Im nächsten Augenblick landete seine Faust in Sherlocks Gesicht, genau auf der Nase. Der ging zu Boden, John schnappte erschrocken nach Luft und ging neben ihm in die Knie.

Mary stand fassungslos daneben.
Sherlock.
Von dem alle glaubten, er sei tot.
Sherlock, der Mann, der Johns erste Wahl war.
Sherlock, gegen den sie keine Chance hatte.
Sie sah mit Tränen in den Augen zu, wie John versuchte, Sherlocks Blutung zu stoppen. Sie straffte ihre Schultern, wandte sich ab und verließ das Lokal.
Sie machte sich auf den Weg in ihr neues Leben.
Ein Leben ohne John.
Ein Leben, das sie mit ihrer zweiten Wahl würde leben müssen.

  
  

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