Schicksal

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Mycroft hasste Greg.
Mycroft hasste sein Leben.
Mycroft hasste die ganze Welt.

Nun ja, ganz so stimmte das nicht. Greg hasste er natürlich nicht wirklich. Im Gegenteil. Er liebte Gregory mehr, als er je geglaubt hatte, lieben zu können.
Um genau zu sein, war er bis vor kurzem noch fest davon überzeugt gewesen, dass er niemals einen anderen Menschen lieben würde, mit Ausnahme natürlich der Eltern, und in gewisser Weise auch Sherlock, dem er eine brüderliche Liebe entgegenbrachte, die sicher ein wenig speziell war.
Aber eine Frau oder einen Mann in sein Leben lassen, an sein Herz, unter seine Haut... das hatte er sich nicht vorstellen können.

Doch dann war Greg gekommen und hatte die Sache in die Hand genommen. Er hatte nach einer langen Zeit des gegenseitigen Bewunderns endlich Mycroft gebeten, mit ihm auszugehen. Es war Schlag auf Schlag gegangen, Greg hatte ihn im Sturm erobert.
Und nun konnte Mycroft sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.

Was ihn nicht daran hinderte, jetzt und hier in diesem Augenblick wirklich sauer auf ihn zu sein. Denn immerhin war es Gregs Schuld, dass sie hier saßen, und dass Mycroft nun Blut und Wasser schwitzte.

Na ja, er musste zugeben, dass er sich schon seit ... seit wann? Ja, vorgestern. Vorgestern hatte es begonnen. Also gut, dass er sich Greg gegenüber schon seit vorgestern nicht besonders nett verhalten hatte. Er hatte ihn schon wegen Kleinigkeiten angeschnauzt und war unleidlich gewesen. Im Nachhinein wunderte er sich, wie Gregory ihn so lange ausgehalten hatte.
Nicht nur Greg hatte darunter zu leiden gehabt. Anthea hatte langsam und tief durchatmend die Hände so fest um die Schreibtischkante gekrallt, dass ihre Fingerknöchel ganz weiß wurden. Und seine sonst so gelassene Assistentin so bebend vor Zorn über ihren Chef zu erleben, kam quasi einfach nicht vor, war in der Struktur der Realität dieses Universums nicht vorgesehen.
Ein Praktikant hatte Türen schmeißend das Büro verlassen und die Sekretärin am Empfang war in Tränen aufgelöst gewesen.
Es war so weit gekommen, dass Anthea ihn regelrecht rausgeschmissen hatte und nach Hause geschickt hatte.

Zu Hause hatte er sein Unwohlsein dann an Greg ausgelassen. Er schämte sich ein wenig dafür. Na ja, Greg hatte sich das eine ganze Weile gefallen lassen. Er hatte Geduld bewiesen, hatte versucht, Mycroft mit Argumenten zu überzeugen.
Irgendwann hatte es Greg gereicht. Er hatte sich vor Mycroft aufgebaut und hatte gesagt:

„Mycroft Alexander Holmes – Lestrade! Du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten. Entweder du gehst noch heute mit mir zum Zahnarzt, oder du wirst die nächsten Nächte auf dem Sofa verbringen bis du endlich zur Vernunft gekommen bist!"
Mycroft hatte geschluckt.
Ohne Greg in seinem Armen würde er keinen Schlaf finden, noch dazu wurde die Lage von Stunde zu Stunde schlimmer.
Dennoch hatte er die zweite Option erwogen.
Denn er, der große Mycroft Holmes, der ganze Länder mit einem Blecken seiner Zähne zum erzittern bringen konnte, hatte in genau diesen Zähnen Zahnschmerzen. Genauer gesagt im rechten Backenzahn.
Aber was das ganze noch viel schlimmer machte: Er hatte eine unfassbare Angst vorm Zahnarzt.
Allein bei dem Gedanken an den Behandlungsstuhl drehte sich ihm der Magen um.
Aber ... Greg ... das Sofa ...
Mycroft hatte seinen Ehemann angeschaut wie ein getretener Welpe, hatte aber letztendlich genickt.

Greg hatte sich gekümmert, hatte Anthea angerufen, um in Erfahrung zu bringen, welchen Dentisten Mycroft für gewöhnlich aufsuchte. Dann hatte er die Praxis kontaktiert und einen Notfall geltend gemacht.
Und nun saßen sie hier, und darum also hasste Mycroft die ganze Welt.

Greg saß nah bei ihm und hielt ihm die Hand.
Mycroft, dem der kalte Schweiß ausbrach, quetschte Gregs Hand fast zu Brei, doch er merkte es nicht. Greg dagegen sorgte sich ein wenig um seine Finger und seine Handwurzelknochen. Aber er hielt es aus. Er wollte für Mycroft da sein.
„Weißt du", sagte er leise, „Wenn ... wenn es so schlimm ist für dich, kann ich auch mit reinkommen ins Behandlungszimmer und dort deine Hand halten, wenn du möchtest."
„Unsinn, Gregory", sagte Mycroft und versuchte die von ihm gewohnte Arroganz in die Stimme zu legen. „Immerhin bin ich kein kleines Kind mehr!"
Greg schmunzelte, sagte aber nichts.

Ein paar Minuten vergingen.
„Gregory?"
„Ja, Myke?"
„Ich ..."
„Was, Myke?
„Ich ... kannst du bitte doch mit in das Behandlungszimmer kommen?"
„Ja, mein lieber", sagte Gregory. „Für dich immer."
Mycroft atmete erleichtert auf.
„Danke. Ich bin so dankbar, dass ich dich habe, Gregory Armand Holmes - Lestrade."
Greg schmunzelte wieder. Mycroft konnte schon richtig süß sein. Ja.

Schließlich wurde Mycroft aufgerufen.
Ein Zittern durchlief ihn, und eine Sekunde lang überlegte er, sich einfach umzudrehen und die Praxis zu verlassen.
Doch dann straffte er sich. Er hatte Gregory an seiner Seite. Er musste sich nicht alleine dieser Prüfung stellen. Er musste nicht allein die Kammer der Schrecken betreten. Nicht alleine den finsteren Drachen bekämpfen.

Und so nahm er erneut Gregorys Hand, schloss einen winzigen Moment die Augen und atmete tief durch, bevor er sich in Bewegung setzte.

Hoch erhobenen Hauptes schritt Mycroft, Hand in Hand mit seinem Ritter in schimmernder Rüstung, dem Schlachtfeld entgegen, um sich seinem Schicksal zu stellen.

Sherlock BBC One-shotsWhere stories live. Discover now