Prolog - Eine kurze Geschichte der Nachtalben

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„Vor langer, langer Zeit, als die Menschheit noch in ihren Anfängen war, gab es zwei Arten der Alben:

Die Lichtalben, die gelernt hatten, sich die Elemente zu Nutzen zu machen, und die Schwarzalben, deren Magie von innen kam. Sie konnten mit ihren Blicken Flüche ausstoßen oder ihre Gegner mit Worten zum Bluten bringen. Die Lichtalben fürchteten ihre mächtigen Verwandten und mit der Zeit wurde aus dieser Furcht Hass geboren.

Dennoch gab es von Zeit zu Zeit ein kleines Wunder, nicht gänzlich der einen oder der anderen Art zuzuordnen: Ein Kind, geboren aus einer Verbindung von Licht- und Schwarzalben. An einem versteckten Ort lebten diese Mischwesen zusammen, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu Licht oder Schatten.

Eines Tages entdeckten die Lichtalben das Geheimnis des Dorfes. In ihrem Zorn über den Verrat ihrer Schwestern und Brüder brannten sie das gesamte Dorf bis auf seine Grundfesten nieder. Wenige konnten aus den Flammen fliehen. Doch die Überlebenden waren keine Lichtalben mehr – ebenso wenig waren sie Schwarzalben. Die neue Gattung der Dunkel- oder Nachtalben war geboren. Sie hatten weder die Elementaffinität der Lichtalben noch die Wortmagie der Schwarzalben geerbt; mit ihnen wurde eine neue Form der Magie geboren. Die Mischwesen erschlossen einen Zwischenraum zwischen Realität und Traum, den niemand außer ihnen wahrnehmen oder betreten konnte. Begabte unter ihnen konnten die Wahrnehmung anderer nach ihren Wünschen formen und verbiegen, aber dafür gab es einen Preis zu zahlen: Ihre eigene Lebensenergie war flüchtig. Wollte ein Nachtalb am Leben bleiben, so musste er ein parasitäres Leben führen. Die Energie anderer Lebewesen wurde zu der Quelle ihrer Magie. Die Lichtalben nannten diese Mächte Berührungsmagie und verunglimpften die Nachtalben aus Angst vor ihrem Potenzial.

Aus Verzweiflung über die Ablehnung ihrer Vorfahren schlossen sich die Überlebenden den Kolonien der Schwarzalben an, die sie wie verlorene Kinder in ihren Reihen akzeptierten. Der Hass der Albenarten wuchs ins Unermessliche, denn die Lichtalben fühlten sich in ihrer Existenz bedroht. Sie argwöhnten, dass die Nachtalben mit Absicht erschaffen worden waren, um die Reihen der Schwarzalben zu stärken.

Wo man aufeinandertraf, wurde gekämpft. Einzeln, in Gruppen und schließlich Armee gegen Armee, als sich die Lichtalben unter ihrer ersten Königin vereinten – einer Lichtalbin, die den Titel Titania in die Schlacht trug.

Die letzte, große Albenschlacht fand in Alfheim selbst statt, einer magischen Insel, auf der die beiden Arten seit jeher koexistiert hatten. Man kämpfte um die Zukunft, um Gerechtigkeit, aber auch um den magischen Boden, den die Insel bot. In diesen Tagen färbte ihn das Blut der Alben rot und die Luft war erfüllt mit tausenden Arten von Magie. Es dauerte 100 weitere Jahre – dann hatten die vereinten Lichtalben ihre Gegner in die Finsternis gedrängt. Der ewige Krieg war beendet und die Lichtalben gingen dank Titania als die glorreichen Sieger und Herrscher über Alfheim hervor.

Die Schwarzalben gehörten in ihren Augen nicht nach Alfheim, sondern unter die Erde, wo sie in eine Zwischenwelt zwischen Tag und Nacht verbannt werden sollten. Unweit des Schlachtfelds meißelte man in Eile ein Tor in den Stein, das zu dieser düsteren Welt, kaum mehr als einer Höhle, führen sollte und hauchte ihm mit Magie Leben ein. Ein Besiegter nach dem anderen erhielt die Wahl: Zu sterben oder hindurchzugehen.

Als nur noch Lichtalben auf den blutigen Überresten des Krieges standen, versiegelte Titania dieses Tor mit eigenen Händen, sodass nie wieder ein Schwarzalb den Weg aus seinem Gefängnis finden würde.

Die folgenden Jahrhunderte waren eine düstere Zeit für die Nachtalben, deren Allianz mit den Schwarzalben auf solch endgültige Weise zerschlagen worden war. Offiziell waren sie durch Titania freigesprochen als unwissende Kinder, die in den Krieg ihrer Eltern hineingezogen worden waren, doch in den Schatten wurden sie verfolgt. Mit Habichtaugen wachten die Lichtalben über die Siedlungen der Mischwesen, jederzeit bereit, diejenigen zu bestrafen, die sich ihren Vorgaben widersetzten.

Vor diesem Hintergrund beschlossen sich sechs Familien zusammenzuschließen, um der Willkür und der Verfolgung zu trotzen. Ihre Familienoberhäupter führten als Zusammenschluss, der den Namen Der Innere Kreis der Gemeinschaft erhielt, andere Nachtalben an, mit dem Ziel Sicherheit und Gesellschaft zu bieten. Andere Zusammenschlüsse wurden früh aufgespürt und ihre Mitglieder ausgelöscht, doch die Gemeinschaft der Gründer hatte einen strategischen Vorteil: Bei dem Boden, auf dem ihre Siedlung gegründet worden war, handelte es sich um das letzte Schlachtfeld. Das Tor zur Welt der Schwarzalben war fest versiegelt; doch ihre Magie war über die Jahrhunderte aus dem Übergang gesickert wie zäher Teer und hatte den Boden durchtränkt. Eine Art Schleier zwischen diesem Ort und der Welt war entstanden, durch den die Lichtalben in Alfheim nicht bemerkten, wie die Gemeinschaft wuchs.

Selbst als die Verfolgung ein Ende gefunden hatte und Friedensverträge aufgesetzt wurden, um das Fortbestehen beider Arten zu sichern, weigerte sich die Gemeinschaft, ihre Tore für die Außenwelt zu öffnen. Wenige Lichtalben haben jemals das Innere gesehen und noch weniger würden es wagen, ein Wort darüber verlauten zu lassen."

Ich klatschte, als hätte ein Theaterstück sein Ende gefunden.

„Und so soll es bleiben", schloss Großmutter mit einem kleinen Lächeln, während sie das ledergebundene Buch in ihren Händen schloss. Der Geruch von altem Pergament und Moder hing in der Luft. „Hier sind wir sicher, Epherys. Solange, bis wir stark genug sind, um die Geschichte umzuschreiben."

Sie beugte sich nach vorne, um die Decke über meinem Bauch glattzustreichen, und verschwommene Bilder strömten in mein Bewusstsein. Die Zubereitung des warmen Abendessens; wie sie das alte Buch aus dem Regal gezogen und sich zu mir gesetzt hatte, um mir vor dem Schlafengehen vorzulesen; aber auch der Streit, den sie mit ihrem Mann gehabt hatte. Ich verstand nicht, worum es ging, aber an ihren Gesichtern konnte ich erkennen, dass sie wütend aufeinander waren. „Weshalb haben du und Opa gestritten?"

Großmutter zog ihre Hände abrupt zurück und der Bilderstrom brach ab. „Vorsichtig mit deinen Gaben, Epherys. Sie werden uns eines Tages von großem Nutzen sein – aber bis dahin musst du sie gut behüten."

Die Akademie der Lichtalben - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt