f o u r t y f i v e

359 35 0
                                    

In den folgenden Wochen bemühte ich mich wirklich, nicht mehr an meine Freunde und Verwandten in der Realität zu denken, aber mit der Zeit fiel es mir zunehmend schwerer, es nicht zu tun. Ich konnte nicht mehr dorthin zurückkehren, aber ich schaffte es nicht, denn mich quälte die Tatsache, dass ich absolut keine Ahnung hatte, was dort passiert war. Ob Florian einem von ihnen etwas angetan hatte oder nicht.

An diesem bestimmten Tag quälte mich die Ungewissheit noch mehr als sonst. Den ganzen Tag war ich nervös, sogar so sehr, dass Scarlett mich beim Mittagessen besorgt musterte und sagte: ,,Sag mal, was hast du denn? Du bist schon den ganzen Tag so! Was ist denn los."

Ich schluckte einen Löffel von meiner sehr heißen Suppe und verbrannte mir sogleich den Mund. Zur Linderung kippte ich schnell ein halbes Glas Wasser hinunter und verschluckte mich daran. Nachdem ich ausgiebig gehustet hatte, antwortete ich nur: ,,Nichts besonderes, ich weiß auch nicht was los ist. Ist irgendwie ein komischer Tag heute."

Scarlett glaubte dieser Lüge nur halbwegs, warf mir aber nur einen kritischen Blick zu und ließ mich glücklicherweise in Ruhe.

Nach den Mittagessen quälte ich mich noch durch den Nachmittagsunterricht, traf mich danach noch mit Scarlett und ein paar anderen Freunden und fiel abends zwar todmüde ins Bett, konnte aber kein Auge zumachen. Nachdem ich mich dann ungefähr anderthalb Stunden von der einen auf die andere Seite gewälzt hatte, stand ich auf, weil mir bewusst war, dass ich meine Nervosität und Ungewissheit nur auf eine einzige Weise ändern konnte.

Also schlich ich zum Kleiderschrank, öffnete ihn leise und Zug eine schwarze Hose, einen Hoodie und eine Jacke der gleichen Farbe hinaus. Vorsichtig zog ich mich an, streifte dann noch meine Turnschuhe über die Füße und schlich hinaus in den Flur.

Es könnte sein, dass ich hier einen riesengroßen Fehler machte. Ich hatte mir geschworen, damit abzuschließen und alles hinter mir zu lassen. Aber ich bekam es einfach nicht richtig hin, das war Fakt. Scarlett hatte mir an meinem ersten oder zweiten richtigen Tag hier erzählt, dass es eine kleine Zeitverschiebung zwischen Realität und Surrealität gab, weshalb ich hier ja auch, wenn ich in der Realität Nachmittags hier hin gesprungen war, hier den Morgenunterricht hatte besuchen können. Seltsamerweise war mir das selber nicht aufgefallen. Wenn ich jetzt also hierlossprang, war dort schon Morgen oder Vormittag, eigentlich ideal für mein Vorhaben. Ich hatte nur drei Stunden Zeit, weil Scarlett Nacht ungefähr alle fünf Stunden aufs Klo ging (das wusste ich, weil ich von ihren Schritten immer wach wurde). Ich durfte also nicht allzu lange wegbleiben, denn was geschehen würde, wenn sie wachwurde und ich nicht schlafend in meinem Bett lag, wollte ich mir gar nicht ausmalen. Also war Eile angesagt.

Ich löste mich in Schatten auf und erschien Im Flur der Wohnung von mir und meinem Dad. Aber es war unnötig gewesen, hier her zu springen, denn Dad war auf der Arbeit. Da würde ich mir gleich noch etwas einfallen lassen müssen, aber dann ging es eben sofort weiter zur nächsten Station. Das war zwar etwas riskant, aber ich brauchte einfach Gewissheit. Ich wirbelte durch die Dunkelheit und landete diesmal hinter einem Busch auf dem Pausenhof meiner alten Schule. Zum Glück war hier niemand. Wenn ich meinen alten Stundenplan richtig im Kopf hatte, hatten Rose und Elouise jetzt Chemie. Die Naturwissenschaftsräume befanden sich zu meinem großen Glück im Erdgeschoss, ich schlich also einmal außen um das Gebäude herum und lugte an der Rückseite durch eines der Fenster, doch mir wurde schnell klar, dass das nicht der Kurs war, den ich suchte, ich entdeckte keine bekannten Gesichter. Schon beim Nächsten Fenster hatte ich Glück, das war der richtige Kurs. Mein alter Lehrer Mr.Thompson stand gerade vorne und Kritzelte etwas an die Tafel, und in der zweiten Reihe entdeckte ich auch Elouise. Aber die beiden Plätze neben ihr waren leer. Der eine gehörte mir, natürlich saß da niemand. Aber der andere Platz, da saß Rose. Und er war leer. Verdammte Scheiße, das konnte nicht sein. Sie konnte ja auch einfach krank sein oder so. In diesem Moment fiel mir Elouise ins Auge, die schniefte, ein Taschentuch hervorkramte und mit Tränen in Den Augen auf den leeren Platz neben ihr starrte. Nein. Das konnte nicht sein. Wenn Rose tot war, dann war das meine Schuld. Ich war abgehauen, hatte alle alleingelassen. Ich war so verdammt feige. Und natürlich hatte mein Verschwinden und der Kontaktabbruch Florian nicht daran gehindert, seine Drohung wahrzumachen. Er hatte wahrscheinlich Rose umgebracht, und es war verdammt noch mal meine Schuld.

Wie betäubt lehnte ich mich mit dem Rücken an die Gebäudewand und rutschte langsam daran herunter. Ich war wie gelähmt. Das konnte doch nicht wahr sein, auch wenn es eine Möglichkeit gewesen war, war ich nie davon ausgegangen, dass es wirklich passieren würde.

Langsam stand ich vom Boden auf. Ich musste mich vergewissern, dass es wirklich Realität war, und gerade in dem Moment, in dem ich durch das Fenster in den Raum schaute, öffnete sich die Tür und zwei Mädchen kamen herein. Die eine, Emilia hieß sie glaube ich, ging zu ihrem Platz in der letzten Reihe, und die andere steuere auf die zweite Reihe und damit auf Elouise zu. Sie setzte sich neben sie, doch erst als sie mir ihr Gesicht zuwandte, hatte ich Gewissheit. Es war Rose. Sie war nicht tot, und im ersten Moment war ich so erleichtert, dass ich vergaß, wie vorsichtig ich sein musste. Einen Wimpernschlag lang sahen wir uns in die Augen, und dann stieß sie einen Schrei aus, den ich durch das gekippte Fenster super hören konnte. Erschrocken trat ich die Flucht an und sprintete um die nächste Ecke, wo ich stehen blieb, um den aufgebrachten Stimmen zu lauschen, die ich sogar bis hier vernehmen konnte. ,,Da war sie!" ,,Wer soll da gewesen sein, Rose?" ,,Es war Zoe, Elouise, Zoe! Ich hab sie angesehen, und dann ist sie losgelaufen und abgehauen!" ,,Bist du dir sicher? Da ist niemand!"

Bevor ich den Beiden schmerzhaft vertrauten Stimmen weiter lauschte, überwand ich mich und ging weiter. Das sollte eigentlich nur ein Check sein, ob es meinen Freunden und Verwandten gut ging, aber jetzt, wo ich ihre Stimmen gehört hatte, so erfreut, mich gesehen haben zu können, vermisste ich sie mehr als je zuvor. Aber das durfte ich nicht zulassen, deshalb musste ich hier schleunigst weg, bevor mich Schmerz und Sehnsucht übermannten. Ich huschte in den Schatten einer großen Eiche, dann materialisierte ich mich und materialisierte mich in unserer Wohnung wieder. Mir war eben eingefallen, wie ich überprüfen konnte, ob mit meinem Dad alles in Ordnung war, deshalb ging ich Schnurstracks in sein Schlafzimmer und öffnete energisch den Kleiderschrank. Ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Dad hatte die Sachen von Mum nie weggeworfen, deshalb hingen sie hier alle noch. Ich durfte jetzt nicht zulassen, dass mich eine Welle der Trauer übermannte, deshalb versuchte ich , mich so gut wie möglich auf meine anstehende Aufgabe zu konzentrieren. Ich suchte eines ihrer Buisinesskostüme aus, kramte ihre Brille aus dem Nachttisch und begann mit der letzten Mission für heute.

Die Schattentänzerin | AbgebrochenWhere stories live. Discover now