⌞chapter two⌝

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„Und du so?", frage ich Dad, während ich die Keksdose zu mir heranziehe und mir ein Schokoladenkeks nehme.

„Ach, das übliche. Man streitet, ich versuche zu vermitteln, man streitet sich hinter vorgehaltener Hand."

„Erzähl, was stand diese Woche an?"

Einerseits interessiert mich Dads Arbeit wirklich, andererseits weiß ich, dass Becca darauf brennt, ihre Geschichte weiter zu erzählen, sie aber zumindest noch so viel Anstand hat, sich damit hinten anzustellen.

„In der Ukraine, nahe am umkämpften Kreml, gab es einen Grundwasserkonflikt, der damit zusammenhängt, dass die prorussischen Anrainer-"

Beccas sanfte Stimme unterbricht ihn: „Dad, du musst doch nicht auch noch in deiner Freizeit von deiner Arbeit reden. Das ist doch schon unter der Woche belastend genug."

Wie gesagt: Schlange.

Ich fresse ein Keks nach dem anderen hinein, während ich darauf warte, dass Becca ihr belangloses Gelaber einstellt, und ich Dad endlich wieder für mich habe. Warum denkt meine Schwester eigentlich, dass ich kein Anrecht auf Dads Aufmerksamkeit habe, wenn er endlich nach Hause kommt?

Wenn Lily hier wäre, hätte sie das Gespräch durch eine perfide Umleitung subtil in meine Richtung gelenkt, während Bex wieder außen vor wäre. Leider ist Lily noch in der U-Bahn, irgendwo zwischen Hongdae und Gangnam, und ich verliere immer mehr Boden an meinen Teufel von Zwillingsschwester.

Als es an der Tür klingelt, erhebe ich mich seufzend, in der Hoffnung, dass es Lily ist, die den Schlüssel wieder einmal vergessen hat, oder Glinda, beide Arme bereits voller Einkäufe.

Weit gefehlt. Als ich in den Flur trotte und die Tür unwirsch aufreiße, ist es nur Yixing, Beccas Freund von einem halben Jahr. Er ist Chinese, der jedoch schon sein gesamtes Leben in Südkorea wohnt. Er sieht auf eine subtile Art sehr gut aus, mit einer feinen Knochenstruktur und dichtem schwarzen Haar. Nur ein Blick in mein Gesicht genügt, und er weiß, dass ich nicht meine Schwester bin.

„Du hast da Krümel auf der Wange, Miranda." Grinsend schiebt er sich an mir vorbei und ich verziehe das Gesicht, während ich die Tür hinter ihm zuschlage.

„Es verstört mich, dass du immer zu wissen scheinst, wer von uns beiden wer ist, wenn selbst mein Dad manchmal Schwierigkeiten hat."

Eigentlich mag ich Yixing. Er ist beizeiten vielleicht etwas gar langweilig, aber er tut meiner Schwester gut. In seiner Gegenwart ist sie weniger sie selbst; das heißt das unumgängliche Miststück, das ihren Genen zugrunde liegt. Dass wir dieselbe DNA haben, macht mir ohnehin große Sorgen.

„Tja, er liebt euch halt beide." Sein chinesischer Akzent ist weich, weil er es nicht so meint. Ich schlage ihn spielerisch gegen den Unterarm und gemeinsam kehren wir in die Küche zurück. Das strahlende Lächeln, das sich auf Beccas Gesicht ausbreitet, als sie Yixing erblickt, ist Grund genug, den schmalen, hohen Jungen ins Herz zu schließen.

Auch Dad freut sich sichtlich, Yixing zu sehen. Die beiden haben ihre gemeinsame Liebe für Cricket vor einigen Wochenenden entdeckt und seitdem wird fast andauernd über den Wurfarm des Koreanischen Nationalpitchers gefachsimpelt, wenn Yixing uns besucht.

„Heute Abend also", sagt Dad zur Begrüßung und zuerst denke ich, dass ein wichtiges Spiel ansteht, aber als Becca ihre Hand auf Yixings Brust legt und stolz grinst, wird mir bewusst, dass er von der omnipräsenten Tanzaufführung im nationalen Konzerthaus spricht.

Yixing nickt, wohl plötzlich etwas nervös. „Oh, ja. Ich muss sowieso gleich los, aber ich wollte noch einmal bei meinem Glücksbringer vorbeischauen."

Be My MuseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt