《Kapitel 35》▪Claire▪

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Kritisch betrachtete ich das lächerlich dünne Seil, mit dem ich mich an dem Geländer des Balkons festgebunden hatte. Die wahnwitzige Idee, von dem an die Küche angrenzenden Balkon aus auf das Dach zu klettern, war nur dann gut, wenn ich es auch auf das Dach schaffte und nicht wie ein Spiegelei in der Pfanne auf dem Asphalt in schwindelerregender Tiefe unter mir landete. Ich hatte das ungute Gefühl, dass das Seil – falls ich wirklich fallen sollte – nicht viel gegen den Sturz ausrichten würde.

Was soll's. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen versuchte ich mir einzureden, dass der Abstand zwischen dem Geländer und den ersten Sprossen der Feuerleiter, die an der Außenwand des Gebäudes befestigt war und die meinen Aufstieg auf das Dach ermöglichte, größer aussah als er tatsächlich war. Dann stieg ich vorsichtig auf das oberste Element des Balkongeländers, dessen metallene, rutschige Beschaffenheit ich unter den dünnen Sohlen meiner Turnschuhe nur allzu deutlich wahrnahm, und streckte die Hand nach der Leitersprosse aus.

Erst als ich mit beiden Händen die Sprosse fest umklammert hielt, nahm ich zögernd erst den einen, dann den anderen Fuß von dem Geländer und stellte sie nacheinander auf die Stufen der Leiter. Nicht nach unten sehen, bloß nicht nach unten sehen, Claire. Trotzdem konnte ich nicht widerstehen und warf einen flüchtigen Blick nach unten. Die Autos unter mir auf der Straße wirkten auf einmal wie ein Haufen Ameisen, der weit weg und doch gefährlich nah war. Bei dem Gedanken, ich könnte von den Sprossen abrutschen und fallen, fingen meine Hände an, zu schwitzen, und mein Herz wie verrückt zu klopfen. Schnell richtete ich meinen Blick wieder auf die Leitersprossen vor meinem Gesicht und begann, an der Hauswand hochzuklettern.

Schwindelerregende Minuten später stand ich keuchend auf der Dachterrasse. Ich konnte den Gang sehen, der zu dem Platz führte, an dem James und ich miteinander geschlafen hatten. Ich konnte kaum glauben, dass es erst wenige Stunden her sein sollte – mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Was James wohl sagte, wenn er erfahren würde, dass ich tatsächlich durch das Fenster geklettert war, um Jess zu retten? Einen kurzen Augenblick lang überkam mich ein hysterisches Lachen, weil ich die Situation so absurd fand. Doch dann fasste ich mich wieder und erinnerte mich an den Plan, den ich mir zurecht gelegt hatte: Zuerst musste ich aus dem Apartment fliehen - was ich eben getan hatte. Danach wollte ich in Jess' Wohnung gehen und nach Hinweisen suchen, wo Maxim sie gefangen halten könnte. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass ich dort etwas fand, war es doch immerhin ein Anfang.

Ich kehrte dem Gang und den daran gebundenen Erinnerungen schwerfällig den Rücken zu und machte mich auf die Suche nach einer Treppe, die mich wieder in das Innere des Gebäudes führen würde. Neben dem ausgeschalteten Fahrstuhl fand ich sie; eine Notfalltreppe, falls der Fahrstuhl defekt war. Entschlossen drückte ich die Klinke der Tür hinunter, hinter der sich die Treppe befand, und nahm zwei Treppenstufen auf einmal.

Vor dem Haus mit den zahlreichen Mietwohnungen, von denen eine auch Jess gehörte, machte ich Halt und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich hatte die Blocks von James' Apartment hierher unter der prallen Mittagssonne zu Fuß zurückgelegt, da ich weder Geld für ein Taxi dabei hatte noch ein eigenes Auto besaß. Inzwischen schien mir James' Wunsch, dass ich in seinem klimatisierten Apartment blieb, ziemlich verlockend. Aber die Tatsache, dass Jess irgendwo dort draußen allein in den Fängen eines Vampirs war und das nur wegen mir, ließ mich diese Überlegung sofort wieder verwerfen.

Stattdessen klingelte ich bei einem Nachbarn, der so freundlich war, mich in das Haus zu lassen, und trat ein. Bei dem Anblick von Jess' Briefkasten, der vorlauter Briefe und Zeitungen schon überquillte, befiel mich eine schlimme Vorahnung. Wie lange war Jess wirklich schon verschwunden?

Ich schnappte mir einen der Briefe, der beinahe aus dem übervollen Briefkasten gefallen wäre, und öffnete ihn. Der Brief war eine Woche vorher verschickt worden. Eine Woche schon musste Jess unter den Grausamkeiten eines verrückten Vampirs leiden.

Eine Nacht mit einem Vampir Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt