Kapitel 32

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Ich mache mich auf den Weg in Liliths Zimmer. Wenn Miguel schon wach ist, wird er bestimmt bei ihr weilen. Zu meiner Verwunderung erklingen zwei Stimmen aus dem Raum. Sofort ist das Gespräch zwischen den Anführerinnen vergessen und ich verlangsame mich, ohne es zu merken. Ist... Ist... Ist Lilith zu sich gekommen...? Höre ich da wirklich ihre Stimme? Nach zwei Monaten?
An der Tür bleibe ich stehen und lausche. Gerade fragt Lilith, warum sie nicht gestorben sei. Ich werde Miguel später dafür danken müssen, dass er mich im letzten Moment noch zur Vernunft gebracht hatte. Für welches Monster würde ich mich halten, hätte ich auch sie umgebracht... Welche Schuld würde ich gegenüber Miguel empfinden...
Meine nächsten Gedanken treffen mich wie ein Schlag. Wird mir Lilith den Angriff verzeihen? Ich mache mir keine Hoffnungen. Doch dann sagt Lilith auf einmal, dass ich nichts dafür habe. Meine Erleichterung kann ich nicht in Worte fassen. Die Last auf meinen Schultern war schwerer als angenommen.
Dem Gespräch zwischen Miguel und Lilith folge ich nicht weiter. Ich bereite mich vor einzutreten, sammele alle Gedanken, die mir durch den Kopf schwirren wie irre Wespen. Das Mädchen ist zu sich gekommen und sie steht auf unserer Seite. Wenn ich ihr alles erzählen könnte, wenn sie im Clan bleiben würde, wir hätten Großes geschaffen. Sie hätte es getan. Aber auch hier sind meine Hoffnungen ziemlich niedrig. Lilith möchte nur noch nach Hause, zu ihrem Vater und zu ihrem alten Leben, weg von uns allen. Diesmal, sobald die Bitte erklingt zu fliehen, werde ich ihr helfen. Ich werde sogar Miguel mit ihr davonlaufen lassen. Und danach werde auch ich von hier verschwinden. Ich werde den Rat aufsuchen und ihm beitreten.
Ich umfasse die Klinke und öffne die Tür. Obwohl ich vorbereitet war, komme ich einfach nicht umhin, bei Liliths Anblick zu erstarren. Da sitzt sie auf ihrem Bett, bei sich, gesund, und sieht mich an. Ich sehe die Unsicherheit klar in ihren Augen. Diese Zweifel, ob ich sie jetzt denn wieder umzubringen versuchen werde.
“Lilith...“, fange ich an. “Du... bist wieder bei dir. Es tut mir so leid!“

[Kapitel 2 bis 4, Zu Hause bei den Vampiren 2]

Miguel steht auf, sieht Lilith hinterher und tritt auf der Stelle von einem Fuß aufs andere.
“Jetzt hast du es übertrieben.“, seufzt er. “Mann, du hast dich so angehört, als würdest du es wirklich glauben.“
Ich seufze ebenfalls. “Ja... Ich habe es übertrieben.“
Ich versuche, mit dem Mädchen durch Gedankenübertragung zu reden, doch eine innere Druckwelle reißt mich aus ihrem Geist. Bestürzt starre ich Miguel an. Als er sich zu mir wendet und meinen Gesichtsausdruck bemerkt, wird sein Blick besorgt.
“Was ist los?“, fragt er.
“Sie hat mich aus ihrem Geist verbannt.“, erkläre ich abwesend.
Er hebt eine Augenbrau. “Ja und?“
Ich kann mich nicht zwischen Entsetzen und Begeisterung entscheiden. Lilith, als Halbblut, die erst seit einigen Monaten von ihren Kräften weiß und ihre Vampirseite nicht wahrhaben möchte, ist stärker als ich. Wie kommt das zustande?
“Miguel, niemand konnte mich bisher vollständig aus seinem Geist verbannen. Niemand. Und es wird auch niemand können. Aber sie, sie hat es geschafft. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Kraft man dafür benötigt, um sich einen solchen Schutz aufzubauen. Ich hatte das durchgeführt und es hat mich beinahe umgebracht. Wir müssen nach Lilith sehen, denn ich bezweifle, dass es ihr gut geht.“
Nach meinem Angriff eine solche Aktion vollzubringen, ist tödlich.
Der Vampir flucht und läuft los. Bevor er die Villa erreicht, habe ich ihn schon überholt und eile in das Untergeschoss.
Lilith sitzt auf dem Boden in ihrem Zimmer, ihr Kopf und die Arme liegen auf dem Bett. Ich höre sie atmen und ihr Herz schlagen und seufze erleichtert. Sie hat nur das Bewusstsein verloren. Ich lege sie behutsam auf das Bett und decke sie zu. Erst dann bemerke ich Miguels Blick an mir. Ernst und mit verschränkten Armen an den Türpfosten gelehnt sieht er mich an.
“Was hast du rausgefunden?“, fragt er leise.
Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden vor das Bett und überlege, was von dem Gehörten stimmen kann.
“Josephine behauptet, Liliths Mutter zu sein. Sie möchte sie zurückhaben und droht uns ansonsten mit dem Krieg.“
Miguel macht ein verwundertes Gesicht. “Die Gegenanführerin und Liliths Mutter? So ein Quatsch! Wer wird daran schon glauben?!“
Nachdenklich schnaube ich. “Das ist gar nicht so unglaubwürdig. Josephine ist stark. Und genau deswegen kann ich Lüge von Wahrheit nicht unterscheiden, solange die Vampirin nicht vor mir steht.“
Der Vampir sieht mich eine Weile nur an.
“Schenkst DU ihren Worten Glauben?“, möchte er schließlich von mir wissen.
Ich begegne seinem Blick mit Festigkeit. “Nein. Den Glauben schenke ich allein nur meinen Worten. Außerdem kenne ich Josephine. Nur ist es so, dass...“, ich überlege, wie ich das am besten ausdrücken kann. “sie manch einmal sehr überzeugend klingt. Ich habe die Vorahnung, dass ich diesmal etwas Falsches tun werde.“
Betreten senke ich die Augen. Auch ich mache Fehler. Und diesmal ist es kompliziert. Eine falsche Tat, ein falsches Wort bringt uns dem Krieg näher. Die beste Entscheidung wäre die Flucht, doch sie steht mir nicht zur Verfügung.
“Manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn ich damals gestorben wäre.“, wirft Miguel unglücklich ein.
“Ich auch.“, stimme ich ihm zu.

[Kapitel 5 und 6, Zu Hause bei den Vampiren 2]

Aurora ruft Miguel und mich zu Christopher herunter und wir lassen Lilith im Wohnzimmer zurück. Dass er uns beide privat sprechen möchte, bedeutet sehr wohl, dass es um das Mädchen gehen wird, und diese Tatsache gefällt mir nicht. Außerdem ist es fraglich, ob ich mir anhören möchte, was er uns zu sagen hat.
Als wir sein Arbeitszimmer betreten, sitzt der Älteste teilweise auf dem Tisch.
“Ihr habt mir nicht bescheid gesagt.“, knurrt er. “Ihr habt nichts getan, um Lilith bewusstlos zu halten. Ihr habt NICHTS unternommen, was ich von euch verlangt habe!“
Aurora tritt an seine Seite und sieht uns finster an. Mir hätte schon allein Christophers Blick gereicht.
Ich öffne den Mund, um ihm mitzuteilen, dass ich ihm nicht diene, doch im gleichen Augenblick öffnet sich die Tür hinter meinem Rücken. Alexandra schreitet ein.
“Welch ehrenhafter Besuch.“, murmele ich und verbeuge mich leicht.
Sie wendet sich mir zu und ihr Blick ist vernichtend. “Ihr beiden, raus. Ah, und Joshua. Hüte deine Zunge, wenn dir dein Leben lieb ist.“
Einen passenderen Moment hätte sie sich nicht aussuchen können. Diese Drohung erhalte ich nicht der Begrüßung wegen. Doch auch ich habe das nicht umsonst gesagt. Ich musste erfahren, ob sie mein Dasein gespürt hatte.
“Du weißt, dass es nicht so ist.“, entgegne ich gefühlskalt, schubse Miguel mit der stummen Aufforderung, sich zu bewegen, an und folge ihm aus dem Raum.
“Was war denn da los?“, fragt der Vampir verständnislos, als wir im Erdgeschoss ankommen.
Ich zucke die Schultern. “Offensichtlich weiß sie, dass ich ihr und Josephine gelauscht habe.“
Mein Vorteil in dieser Situation ist, dass mir die Anführerin nichts anhaben kann, ohne den anderen Informationen preiszugeben.
Ich spüre ein Tippen an der Schulter und sehe wieder zu Miguel hoch.
“Ehm, Joshua...“, zögert dieser und deutet in Richtung der offenen Eingangstür.
Darin steht Lilith und blickt nach draußen. Hinter dem Tor erblicke ich meine Schwester und meine Muskeln spannen sich sofort an, ohne dass ich es wollen würde.
“Was macht Angelika hier?“, beendet Miguel.
“Gute Frage. Das wüsste ich auch gerne.“, erwidere ich mit einem dunklen Unterton.
“Wie haben sie es so schnell erfahren, dass Lilith bei Bewusstsein ist?“
Ich zucke die Schultern. “Auch Wände haben Ohren. Und jetzt lass uns zu ihr gehen.“

Zu Hause bei den Vampiren 3Where stories live. Discover now