Kapitel 30

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Schon beinahe zwei Monate ist Lilith bewusstlos. Es ist erschreckend, wie nah sie durch mich dem Tod stand. Ich hätte Christopher gleich absagen sollen.
Diese Gedanken versenken mich schon seit Anfang an in Depression und Schuldgefühle, sodass ich meine Aufmerksamkeit hilfesuchend auf die Diskussion lenke, während ich weiter in den Garten hinaus blicke.
“Ich sag dir, sie wird nicht aufwachen.“, behauptet Diana.
“Halt den Mund!“, entgegnet Miguel bissig. “Natürlich wird sie aufwachen!“
“Dann lass uns wetten, wenn du dir doch so sicher bist.“, schlägt die junge Vampirin vor.
Sie hat sich zu schnell an das neue Leben gewöhnt, wie es mir scheint. Ich frage mich, wie sie ihre Familie so einfach hinter sich bringen konnte.
“Welcher Quatsch wird dir noch einfallen, Diana? Ich wette doch nicht um das Leben meiner Geliebten!“, meint Miguel aufgeregt.
“Warum n-“, fängt das Mädchen an, wird jedoch gleich von Maximilians Seufzen unterbrochen.
“Ich bitte dich...“
Ich bin ganz seiner Meinung. Man soll das sinnlose Gerede endlich beenden.
“Also ich finde die Wette interessant.“, meldet sich Aurora zu Wort und ich kann mir das Grinsen auf ihrem Gesicht bildlich vorstellen.
Ich verdrehe die Augen und wende mich an die Vampire. “Dann schließe doch eine mit mir ab.“
Die Älteste lacht trocken. “Damit ich die halbe Gemeinde am Hals habe? Nein, danke, ich verzichte.“
“Ich will mit dir wetten!“, ruft Diana.
Doch ich schüttele lächelnd den Kopf. “Lieber nicht. Frage Miguel oder sogar Maximilian, was passiert ist, als sie das letzte Mal mit mir gewettet haben.“
“Worauf warten wir hier überhaupt?“, wechselt Miguel das Thema.
Wir kommen nicht umhin, als zu seufzen.
“Alexandra hat uns zusammengerufen. Sie hat uns etwas über Lilith mitzuteilen.“, erklärt Aurora.
Etwas über Lilith... Wenn die Anführerin sie doch umbringen möchte, da ihr das Mädchen als nutzlos erscheint, werde ich kämpfen. Lilith hat Potential. Sie ist stärker, als wir annehmen, das spüre ich. Wir können ihr das Leben nicht nehmen.
“Sie kümmert sich so viel um das Mädchen...“, sagt Maximilian nachdenklich.
Die Zweifel sind ihm deutlich anzuhören und ich erkenne erst jetzt den Fehler meiner Gedanken. Alexandra wird Lilith nicht töten. Sie hat Pläne für sie, immer noch. Sie will sie noch immer in eigenen Zwecken ausnutzen. Ich muss erfahren, wie die Situation zwischen den Anführerinnen aussieht!
Mich lenken Schritte aus dem Flur ab. Alexandra kommt. Und Christopher mit ihr. Seitdem wirklich die Hälfte des Clans dank Miguel mich als Anführer haben möchte, droht unsere Gemeinde zu zerbrechen. Auch deswegen verspüren Alexandra und Christopher einen starken Willen, mich am liebsten umzubringen.
Die beiden betreten das Zimmer. Die Anführerin trägt wie gewöhnlich ein bodenlanges Kleid, ihre Schultern sind straff nach hinten gezogen. Doch ich bin ihrem Hochmut nicht neidisch. Für mich hat es eher den Vorteil, sich mit der Umgebung zu verschmelzen und unscheinbar zu sein.
Christopher betrachtet mich mit einem vernichtenden Blick. Wahrscheinlich bereut er es gerade, dass Blicke nicht töten können., lacht Miguel in meinem Kopf.
Ja, wahrscheinlich., lache auch ich.
“Es erfreut mich, dass ihr alle noch heil seid.“, fängt Alexandra an, doch ich glaube ihr kein Wort.
“Danke.“, bedankt sich Maximilian für uns alle. “Wir strengen uns an.“
Da muss ich ihm Recht geben. Unsere Bemühungen, uns gegenseitig nicht umzubringen, sind größer denn je.
Alexandra verschränkt die Arme hinter dem Rücken und nickt.
“Lilith ist immer noch bewusstlos?, fragt sie.
“Ja.“, antwortet Miguel unglücklich.
Diese Tatsache scheint der Anführerin nicht zu gefallen.
“Ich habe mir überlegt, dass wir nach ihrer Mutter suchen sollen.“, erklärt sie schließlich.
Das überrascht mich. Ist Liliths Mutter denn nicht tot?
Und genau das sagt Miguel laut.
“Sollte sie nicht.“, widerspricht Alexandra. “Als ein Halbvampir ist Lilith stärker als die Ältesten und das lässt einschätzen, wie stark ihre Mutter sein könnte. Sie muss sehr alt gewesen sein und sehr mächtig. Wir brauchen sie auf unserer Seite, wenn wir den Krieg gewinnen wollen.“
“Ich glaube kaum, sie hätte überleben können.“, melde ich mich zu Wort.
Eine Mutter würde ihr Kind nicht allein lassen. Vor allem wenn sie weiß, es ist ein Halbvampir und konnte auch unter diesem Umstand überleben. Halbblüter sind sehr selten. Zudem wäre es ein Verstoß gegen die allgemeinen Regeln - von denen ich endlich einige ausfindig machen konnte -, ein Vampirkind allein unter Aufsicht eines Menschen aufwachsen zu lassen. Es könnte zu unserer Offenbarung führen und  das ist strengstens untersagt.
Das alles erzähle ich Alexandra.
“Joshua“, sagt diese ruhig, aber höchst unzufrieden. “Wir wissen alle, dass du dich für den Schlausten hältst. Doch du stehst unter mir und wirst auch das tun, was ich dir auftrage. Ansonsten kannst du auf eine Bestrafung, oder gar Verbannung hoffen, denn ich habe langsam genug von dir.“
Wie oft ich das höre... Sie wollen mir einfach nie den Glauben schenken. Ich frage mich immer wieder vom Neuen, warum eigentlich, wenn ich am Ende doch immer Recht behalte. Gut, die Tatsache, dass ich oft Lügen erzähle, steht fest, jedoch verzichte ich darauf bei Ratschlägen.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. “Ich schweige.“
Die Anführerin nickt stumm. In Gedanken versunken schreitet sie einige Schritte vor und einige zurück. “Bis Lilith aufwacht, sollten wir entweder ihre Mutter gefunden haben oder uns sicher sein, dass sie wirklich tot ist.“
“Wir wissen doch gar nicht, wie lange sie noch bewusstlos sein wird.“, meckert Diana.
Maximilian legt ihr eine Hand auf das Knie und deutet ihr somit darauf, still zu sein.
“Dann solltet ihr euch bemühen, diese Aufgabe schnell fertig zu bringen.“, erwidert Alexandra hochmütig.
Miguel blickt nicht unbedingt begeistert drein. “Wo sollen wir denn anfangen? Wenn diese Vampirin ihr Leben hinter sich gelassen hat, kann sie sich jetzt doch auch in der fernsten Ecke der Welt befinden! Wir wissen nicht mal, wie sie aussieht, um die Erinnerungen der Menschen nach ihr abzusuchen! Die Idee ist-“
Er unterbricht sich selbst, denn die Benennung der Idee der Anführerin als unsinnig würde für ihn höchst unschöne Konsequenzen mit sich bringen. In Gesellschaft der älteren Vampire sollte man immer auf seine Worte achten. Das habe ich Miguel zu oft wiederholen müssen.
Alexandra seufzt. “Miguel, ich verstehe, dass dir alles ziemlich gleichgültig ist, weil du kein anderes Leben kennst, doch es macht einen Unterschied, glaube mir. Deine Gedanken haben zum Teil aber auch eine richtige Richtung. Du weißt doch, wann Lilith geboren wurde. Dann könnt ihr zum Stadtarchiv gehen und nachgucken, wer denn ihre Mutter war. Lasst euch etwas einfallen.“
Mit diesen Worten dreht sie sich um und verlässt den Raum.
“Als hätten wir nichts zu tun.“, murmelt Aurora giftig.
“Wohl wahr...“, seufze ich.
Christopher verschränkt die Arme vor der Brust. “Ich mache das definitiv nicht selbst. Miguel, Maximilian, Diana, ihr geht morgen in das Archiv. Joshua, bleibe bei Lilith. Wenn du auch nur einen Lebenszeichen bei ihr erkennen solltest, gebe mir sofort bescheid. Hast du mich verstanden? Sofort.“
Ich nicke ernst. “Ich habe dich verstanden. Schließlich ist es zu unser aller Vorteil, wenn wir die Aufgabe erledigen, bevor das Mädchen aufwacht.“
Letztendlich bleiben Miguel, Maximilian, Diana und ich zu viert im Wohnzimmer.
“Unsinnig...“, schüttelt Maximilian den Kopf.
Miguel schnaubt. “Wirklich dumm.“
“Zumindest haben diesmal nicht nur wir, sondern auch die Ältesten Stress.“, grinst Diana.

Zu Hause bei den Vampiren 3Where stories live. Discover now