Kapitel 6

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Nachdem mich Josephine nahezu vierundzwanzig Stunden am Stück gequält hat und ich das Gefühl verspürte, dem Sterben nahe zu sein, waren meine Gedanken endlich sicher. Vor ihr und vor allen anderen Vampiren. Dann musste ich leider losbrechen. Josephine meinte, jede erlernte oder verstärkte Fähigkeit ist einen Botengang wert. Die ganze Idee bereitet mir immer noch Bauchschmerzen, doch es ist durchaus gerecht.
Nun laufe ich aus allen Kräften durch die Nacht. Heute muss ich noch das Schiff erreichen, das mich über die See bringen soll. Das Problem liegt darin, dass es ein Kriegsschiff ist und somit angegriffen werden könnte.
Ich bleibe stehen, strenge mein Gehör an und lausche. Eine kühle Brise weht mir ins Gesicht. In der Ferne sind laute Rufe zu hören, die Anweisungen verteilen. Kisten werden aufeinander gestapelt und unter angestrengtem Keuchen auf die Schiffe getragen.
Ich warte den Moment ab, bis die Männer eine neue Ladung holen gehen, und schleiche mich mit Vampirgeschwindigkeit auf das Schiff, verstecke mich weit hinten zwischen den großen Holzkisten. Ich mache es mir auf dem Boden bequem und schließe die Augen, um den ruhigen Augenblick zu genießen. Doch es gelingt mir nicht.
Ich höre ein flaches Atmen und schnelles Herzklopfen, das fremde Blut rauscht laut in den Adern.
Leicht besorgt kämpfe ich mich wieder auf die Beine und folge den fernen Geräuschen. Dann sehe ich eine kleine Gestalt an einer Kiste hocken. Sie blickt nervös um die Ecke und versucht, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Wahrscheinlich vergeblich. Ich überlege kurz, wie ich weiter handeln soll. Kurz.
“Wer bist denn du?“, frage ich interessiert.
Das Kind zuckt zusammen und schreit auf. Doch da ich es geahnt habe, stehe ich schon hinter ihm und drücke meine Hand an seinen Mund.
“Pscht, nicht so laut. Du möchtest schließlich nicht entdeckt werden, oder?“, sage ich leise.
Der Junge sitzt angespannt da und sein Herz rast panisch. Ich nehme ganz langsam meine Hand weg und trete zwei Schritte zurück.
Das Kind dreht sich voller Schrecken mir zu und starrt mich an. “Was bist du?! Du standest doch gerade wo anders. Was willst du von mir?!“
Ich gehe in die Hocke und betrachte den Jungen. Geschätzt müsste er zehn Jahre alt sein und aus einer armen Familie stammen, denn seine Kleidung ist mit Dreck überseht und an einigen Stellen gerissen, der Stoff wirkt billig und kratzig. Weitere Informationen erhalte ich nicht, denn ich möchte mich mit ihm unterhalten und nicht einfach seine Gedanken lesen.
“Mein Name ist Joshua“, stelle ich mich vor. “und ich möchte nur an die andere Seite der See gelangen. Und was hat dich auf dieses Schiff geführt?“
“Ich... bin Derek. Ich versuche, dem Krieg zu entfliehen, weiter nichts.“
Er funkelt mich finster an, als hätte ich ihm Böses getan. Das habe ich schon oft bei Kindern merken müssen, die allein umherstreunten.
Mein nichtssagender Blick bleibt. “Du weißt schon, dass das ein Kriegsschiff ist? In den ganzen Kisten sind Waffen und Munition. Mit diesem Schiff kommst du dem Krieg nur näher.“
Ersetzt weiten sich seine Augen. “Nicht wahr...“, wispert er.
Er tut mir leid. Kinder tun mir immer leid. Er hat gedacht, hier werden Lebensmittel transportiert, das lässt sich deutlich in seinen Gedanken lesen.
“Ich kann dir helfen, von diesem Schiff wieder nach draußen zu gelangen.“, schlage ich zögerlich vor.
Doch Derek schüttelt heftig den Kopf. “Nein.“ Er sieht mich beinahe panisch an.
Seine Reaktion wundert mich und die Neugier ist so überwältigend, dass ich in seine Erinnerungen eintauche. Und sie sind so leidvoll... Der Junge ist auf der Flucht vor seiner Familie und den Wachen seines Lordes.
Mich lenken Geräusche aus der Wirklichkeit ab. Es sind vorsichtige Schritte und leises Flüstern.
Ich schaue alarmiert auf. “Wir müssen weiter nach hinten!“, wispere ich.
Der Junge steht ebenfalls auf, ich greife nach seiner Hand und wir laufen zusammen im wilden Zickzack durch die Dunkelheit.
“Da sind sie!“, wird es nun gerufen. “Hey! Stehen geblieben!!“
Die Hand des Jungen entgleitet mir langsam, da ich es nicht lassen kann, immer schneller zu laufen. Es ertönt ein lautes Poltern und ich halte inne, vesteckt hinter einer großen Kiste.
Derek steht auf allen Vieren und atmet gierig. Ein alter Mann nähert sich ihm und greift nach seinem Oberarm, zieht ihn gewaltig auf die Beine.
“Hier ist der Eine!“, ruft er mit einer krächzenden Stimme, die davon zeugt, dass er viel raucht.
Der Junge versucht, sich mit einem Ruck zu befreien, jedoch vergeblich.
“Lassen Sie mich los, ich lauf schon nicht weg.“, meint er mit einem finsteren Blick.
“Wo ist dein Kumpel, Bengel?“, fragt der Arbeiter.
“Ich bin hier allein. Ich wollte Essen für meine Familie stehlen.“
Ich wundere mich über diese Lügen. Ich habe erwartet, er würde mich ausliefern.
Der Mann lacht rau und lässt den Jungen los. “Da bist du aber auf dem falschen Schiff gelandet. Ich lasse dich laufen, Junge, da es so aussieht, als würdest du die Wahrheit sagen. Ich habe meinen Kindern immer wieder eingeredet, dass sie für Wahrheit immer belohnt werden. Und siehe her, es ist wirklich so. Aber wehe dir, ich sehe dich noch einmal.“
“Danke.“, meint der Junge mit gesenktem Kopf.
Der Alte klopft ihm auf den Rücken und schiebt ihn in Richtung des Ausganges.
Ich rutsche zu Boden und atme erleichtert aus. Derek wird nicht bestraft und kommt dem Krieg nicht näher und ich bin auf dem Schiff. Es sieht aus, als würde alles gut laufen.

Zu Hause bei den Vampiren 3Where stories live. Discover now