Kapitel 1

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Jahr 1436
“Joshua!“, zischt Angelika. “Teufel, Joshua!“
Ich zucke überrascht zusammen und sehe sie unzufrieden an. “Was ist los?“
Sie steht mit vor der Brust verschränkten Armen rechts von mir und schaut mich verärgert an.
“Hör auf, über das Mädchen nachzudenken, wir müssen jagen!“
Ich verdrehe die Augen. “Erst wenn du aufhörst, meine Gedanken zu lesen. Das ist nicht gerade erfreulich.“
In ihrer nun schwarzen Iris spiegelt sich der Mond wider. Vorsichtig taste ich mich in ihre Gedanken vor, damit sie mein Dasein nicht bemerkt. Hätte ich meine Emotionen nicht seit kürzerer Zeit zu beherrschen gelernt, würde ich die Augen entsetzt aufreißen. Sie möchte das Mädchen töten. Das Mädchen... Sie ist die Bäckertochter und hilft ihrem Vater immer mit den Kunden. Sie ist wunderschön. Da ich schon seit Ankunft in diesem Dorf weiß, dass es unter Armut leidet, wollte ich ihrer Familie helfen und kaufte einige Brote. Sie hat mich mit einem dankbaren Lächeln beschenkt. Das Brot habe ich dann zwar an hungernde Menschen verschenkt, doch es hat mir wohl getan, der Familie des Mädchens behilflich sein zu können.
“Joshua!“, zischt Angelika erneut “Das ist nicht dein Ernst. Ich sagte dir, du sollst auf unsere Beute achten und nicht an das Mädchen denken!“
“Und ich sagte dir, du sollst meine Gedanken mir überlassen.“, knurre ich zurück.
“Wir müssen jagen, sonst sterben wir! Finde dich endlich damit ab, dass wir nun seelenlose Teufel sind. Wir leben schon seit vier Jahrhunderten und du hast das immer noch nicht akzeptiert!“ Sie starrt mir verärgert entgegen und senkt dann betrübt ihren Blick. “Sonst kannst du dich gleich umbringen lassen.“
Plötzlich hebt sie den Kopf und sieht konzentriert in die Ferne, wo ein Paar durch die Straßen geht und immer mehr Abstand zwischen uns bringt. Ich stelle ein Bein nach hinten und beuge leicht die Knie. Gleich werde ich angreifen müssen. Angelika ist schon dabei, den jungen Mann zu sich zu locken. Ich weiß, sie spricht gerade mit einer sanften, anziehenden Stimme in seinem Kopf. Gleich wird er sich umdrehen und auf sie zukommen. Und ich werde mich von hinten an das Mädchen heranschleichen und ihre Gedanken benebeln. Angelika und ich haben schon zu oft so gehandelt. Aber ich versuche, mir immer vorzustellen, als seien das keine Menschen, die wir überfallen. Als seien sie nur Essen. Ich mache mir immer vor, dass mir diese Denkweise das Leben leichter machen würde. Dass ich keine anderen unschuldigen Leben zerstören würde. Jedoch hilft mir das nicht. Ich wünsche mir ihren Tod nicht, doch anders wäre ich dem Untergang geweiht. Angelika braucht mich, um den kleinen Rest des Menschen in ihr nicht zu verlieren.
Der junge Mann in der Ferne hält inne und dreht sich herum. Die Zeit der Jagd ist gekommen.

Zu Hause bei den Vampiren 3Where stories live. Discover now