Kapitel 20

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Zum Vorschein kommt altes vergilbtes Papier, das ich verwirrt entfalte. Mit schwarzer Tinte ist ein kurzer Text geschrieben. Noch überraschter werde ich, als ich verstehe, dass die verschnörkelten Worte in der Vampirsprache dastehen. Der Rat...
Ich lese mir das Schreiben dreimal durch. Man lädt mich ein, dem Rat beizutreten. Ich sei die Vernunft, die manche Vampire verloren haben. Ist der Gott mir etwa gnädig geworden? Ich darf dem Rat beitreten! Meine Freude kann ich kaum beschreiben. Am Tag, wenn alle noch schlafen, werde ich mich auf den Weg machen, denn in der Stadt wird man auf mich warten.
Überfüllt mit Glück, den ich hinter der gefühllosen Maske verstecke, falte ich das Brief wieder zusammen und stopfe es in meine Jeanstasche.
“Joshua.“, ruft Aurora von unten. “Gucke mal, ob Miguel und seine... Freundin schon kommen.“
Ich verdrehe die Augen, da mich die ständigen Anweisungen aufregen, und öffne die Eingangstür. Ein Blick nach draußen verrät mir, wie recht Auroras Gefühl hat. In der Ferne erblicke ich zwei Gestalten, die sich der Villa nähern. Als ich mein Gehör verschärfe, kann ich hören, wie sich das Mädchen über die Größe der Villa wundert. Dabei benutzen wir ironischerweise das zweite Stockwerk gar nicht. Sechs Zimmer stehen vollständig ausgestattet da und gehen langsam im Staub unter.
“Ja, sie sind uns schon ziemlich nahe.“, rufe ich zurück.
Gleich wird es interessant und amüsant. Vor allem, weil ich Miguel reichlich nerven darf, denn ich soll einen Vierzehnjährigen vorspielen. Mich stört jedoch, dass Christopher und Aurora sich als Miguels und meine Eltern ausgeben. Das ist nicht unbedingt die Art von Familie, die ich mir gewünscht habe.
Ich öffne die Tür weit auf und winke lächelnd. Miguel legt mir den Arm um die Schultern, nachdem er und Lilith eintreten, und stellt mich vor. “Lilith, das ist mein Bruder, Joshua. Joshua, das ist meine Freundin, Lilith.“
“Hey.“, grinse ich gespielt.
“Hey.“, lächelt das Mädchen.
Sie hat eine helle Haut und dunkelbraune, wellige lange Haare, ihre Augen sind beinahe leuchtend grün. Sie wirkt zierlich und schüchtern. Außerdem ähnelt sie jemandem, doch ich weiß nicht, wem. Was mich an ihr wundert, ist der unnormal starke Blutgeruch. Gewöhnlicherweise kann man ihn mit viel Übung leicht ignorieren. Bei Lilith ist es jedoch beinahe unmöglich. Es ist zum Verrücktwerden!
Während wir zu dritt ins Wohnzimmer gehen, wage ich mich in die Gedanken des Mädchens. Ein leichter Widerstand wird spürbar, doch ich gelange trotzdem in ihr Kopf. Interessant... Was verbirgt du, Lilith? Am liebsten hätte ich ihr die Frage laut gestellt, doch ich glaube, sie ahnt nicht einmal, dass wir keine Menschen sind, geschweige denn, dass man sich vor uns schützen kann.
Miguel fordert Lilith, sich zu setzen, und nimmt neben ihr Platz auf dem Sofa in der Mitte. Ich lasse mich auf das Sofa links von ihnen fallen, um die Tür im Blick zu haben.
“Wann kommen... unsere Eltern?“, möchte Miguel mit einem kurzen Zögern wissen.
Ich zucke im ehrlichen Unwissen die Schultern. “Gleich.“
Das Mädchen legt legt nervös die Hände zwischen die Knie. Dann beugt sie sich zu mir vor.
“Wie sind eure Eltern eigentlich so? Miguel wollte nichts erzählen und hat einfach gesagt, sie seien nett.“
Der junge Vampir ist ja schlau! Es freut mich, dass er wirklich nichts über uns verrät.
»Was hätte ich ihr schon sagen sollen?« spricht Miguel zu mir durch Gedankenübertragung. »Dass sie kaltherzig, ignorant und arrogant sind? Das hätte Lilith bestimmt ermutigt!«
“Sie sind wirklich nett.“, versichere ich. “Mach dir keine Sorgen, Lilith.  Hey, soll ich dir vielleicht Kekse bringen?“
Das Mädchen lehnt sich lächelnd zurück.
“Nein, nein. Sonst werden sie eintreten und ich bin hier mit vollem Mund.“, lacht sie.
Ihre gute Laune ist so ansteckend, dass ich zuerst gar nicht merke, wie mein Lächeln nicht mehr gespielt, sondern mittlerweile echt ist. Ihre Art liegt mir näher am Herzen als Dianas.
Miguel legt einen Arm um ihre Schultern und lächelt sie aufmunternd an. “Du bist viel zu aufgeregt. Entspann dich, es passiert gar nichts Großartiges.“
“Neiiin, nichts Großartiges. Außer dass ich gerade bei dir bin und auf deine Eltern warte, obwohl wir uns erst seit gestern kennen.“, entgegnet sie und setzt bei den nächsten Worten ein schiefes Lächeln auf. “Und wer hat denn behauptet, wir seien ein Paar, hm, Miguel?“
“Na ich.“, erwidert Miguel und grinst zurück.
Ich vernehme Geräusche von der Treppe und werde etwas ernster.
“Ey, sie kommen.“, flüstere ich.
Lilith horch auf und Miguel lacht über diese Reaktion.
“Scheiße, Miguel, Joshua.“, wispert das Mädchen aufgeregt.
Fröhlich lächelnd betritt Aurora das Zimmer. In ihrer aufgesetzten Maske erkenne ich den Hohn. Das ganze Schauspiel macht ihr sichtbar großen Spaß.
Hinter ihr her geht Christopher. Auf seinen Lippen trägt er ein höfliches kaltes Lächeln. Aber sein Emotionsfehlen wundert mich kein wenig, es ist schließlich Christopher. Doch durch seine Art wirkt er älter und das brauchen wir gerade.
Die beiden Ältesten setzen sich auf das rechte Sofa.
“Du bist also Lilith.“, fängt Aurora freundlich an. “Schön, dich kennenzulernen. Ich heiße Aurora. Und das ist mein Mann, Christopher.“
“Es freut mich auch, euch
kennenzulernen.“, lächelt Lilith.
“Wie alt bist du noch einmal?“, fragt die Vampirin.
Das ist mir zu viel von dem guten Verhalten ihrerseits. Sie kann wirklich gut schauspielern. Und das gefällt mir nicht.
Ich stehe auf und mache einen zögerlichen Schritt in Richtung Tür. “Ich gehe dann mal auf mein Zimmer.“
“Nein, bleib hier.“, sagt Christopher mit einem versteckten Befehl. “Du wolltest Lilith doch so gern sehen.“
Ich murmele ein unzufriedenes “hm“ und setzte mich wieder auf mein Platz.
“Ich werde bald achtzehn.“, beantwortet Lilith Auroras Frage.
“Und was machst du gerne so?“, möchte die Älteste wissen.
Offensichtlich lenkt sie das Mädchen ab, während Christopher in ihre Gedanken einzudringen versucht. Denn seinen angespannten Augen nach lässt es sich ahnen, dass er damit nicht unbedingt gut klarkommt. Aus diesem Grunde breitet sich eine starke Schadenfreude in mir aus, die ich zu genießen schätze.

Zu Hause bei den Vampiren 3Where stories live. Discover now