25. Klare Sicht

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Heute. Heute ist es soweit! Gespannt gucke ich durch das große Fenster des Aufenthaltsraumes, das fast die gesamte Wandfläche einnimmt und sehe dabei all den Eltern beim Kommen zu.

Sogar Papa taucht plötzlich inmitten der Mengen auf! Er bleibt jedoch ein paar Schritte von der Tür entfernt stehen und scheint über etwas nachzudenken... Worüber? Kurzerhand holt er aus seiner Tasche eine Zigarette und ein Streichholz. Nein. Hätte er sich nicht wenigstens hier zurückhalten können? Vor lauter zu ihm gewidmeter Konzentration bemerke ich nicht, wie auch Mama herkommt. Sie geht zuerst zu ihm, nähert sich von hinten an ihn ran und tippt ihm auf den Rücken. Er dreht sich um und starrt in ihre Augen, bloß in ihre Augen. Sie spricht nichts, sie legt bloß ihre Hand, ohne einen Blick von seinem Gesicht abzuwenden, auf seine und lässt sie zusammen mit dem rauchenden Ding langsam nach unten senken. Er versteht. Sein Blick scheint sagen zu wollen: "Danke... Es tut mir leid." Sie packt seine Hand fester, sagt ihm etwas, dass ich durch das verschlossene Fenster nicht hören kann, und geht mit ihm zur Tür. Nun klingeln auch meine Eltern. Meine Eltern! Es ist, als ob ein Puzzleteil, das ich schon lange gesucht habe, sich nun wie von selbst gefunden hat. Es fühlt sich magisch an!

Und als ob das nicht schon genug wäre, werde auch ich an der Hand gefasst. Es ist Kelvin! Ich habe ihn wohl nicht reinkommen bemerkt. "Du hast die Einladung angenommen?", staune ich, weil ich das wirklich nicht von ihm erwartet hätte. "Nein, ich hab sie einfach mal so hingenommen", lacht er kurz, dann lächelt er mich schief an. Das ist so süß und romantisch... Dieser Moment. "Und ich hoffe, du wirst auch einfach mal hinnehmen, dass ich für uns vorsorgen musste," ergänzt er sich und gibt mir einen Schokoriegel und öffnet gleich danach auch schon seinen eigenen. Unsicher mach ich es ihm nach... Und beiße eine kleine Ecke ab... Ein süßer vollmundiger Geschmack breitet sich in meinem ganzen Mund aus. Die Schokolade beginnt auf meinem Gaumen zu schmelzen, das Aroma faltet sich voll aus und wirkt wie eine Droge auf mein Gehirn ein. Sofort bin ich entspannt und ruhig, es gibt in diesem Moment nur noch uns beide und diese Schokolade. Schöner könnte es doch nicht sein? Er ist so süß, einfach zum Anbeißen...

19:00 Uhr - der Film kann beginnen. Alle Eltern, Verwandte und Freunde sind bereits da. Zunächst tauchen die Mitwirkenden im Bildschirm auf. Gut gemacht, Frau Rudolf. Danach erscheint die erste Szene des Filmes - unseres Filmes! Musik sollte jetzt hörbar sein, doch der Ton fehlt... Thomas entschuldigt sich nervös kurz bei allen, geht ans Gerät ran, spult nochmal zurück, hantiert in den Einstellungen und am Gerät herum und lässt den Film probeweise wieder und wieder laufen...

Was wäre, wenn auch ich mein Leben zurückdrehen könnte - so wie man es bei einem Kinofilm tun kann? Würde ich das überhaupt wollen? Um meinen Fehlstart im Leben auszubessern... Um es besser machen zu können? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich habe schon soviele Fehler im Leben gemacht, aber ich konnte aus jedem einzelnen etwas lernen. Ich bin froh, sie gemacht zu haben. Deswegen finde ich, dass dieser Weg, den ich eingeschlagen habe, sich gelohnt hat. Er ist zwar steinig, weit und äußerst steil gewesen, aber dafür habe ich auch gelernt für meine Ziele zu kämpfen. Ich konnte viel lernen. Auch konnte ich in Erfahrung bringen, dass es zusammen viel einfacher ist als alleine und dass es einem einfach mehr Freude im Leben bereitet, wenn man... Lebt.

Und nicht bloß irgendwie überlebt.

Den Tod vor Augen (Magersucht)Where stories live. Discover now