06. Fehlstart

1.9K 110 10
                                    

Dieser Vorfall damals bei mir zu Hause mit Kelvin ist nun glücklicherweise mehr als zwei Monate her. Obwohl ich sechs Kilogramm abgenommen habe, fiel mir das Leben nicht gerade leicht... Es wurde nur immer schwerer... Ich wiege jetzt 51 kg bei 1,70 m. Ich fühl mich endlich wohler, aber noch nicht wohl. Appetit habe ich kaum noch, aber daran hat sich meine Familie gewöhnt. Leider habe ich auch das Gefühl, dass Mama und vielleicht sogar Nina ein wenig abgenommen haben... Ich will das doch gar nicht! Wenigstens sie sollten vernünftig sein! Bitte... Warum werde ich nur von allen Seiten zerrissen? Wie an einem Blatt Papier ziehen sie alle an mir. Die Lehrer. Die Familie. Die Magersucht. Man, hör auf, immer nur daran zu denken, Lara! Ich sollte mich jetzt wirklich auf die Schule konzentrieren. Heute halten Kelvin und ich nämlich unser bescheidenes Referat.

Unsere Biologielehrerin kommt pünktlich und schließt wie jede Woche die Klassenzimmertür auf. Wir gehen rein. Unter meinem Arm umklammere ich das Plakat, welches ich fast ganz allein anfertigen musste. Letzte Woche habe ich Kelvin noch seine Karteikarten gegeben und das Quellenverzeichnis per E-Mail an die Lehrerin abgeschickt. Ich wäre echt froh, wenn alles mal vorbei wäre... Dieser ganze Stress.

Mit beiden Händen hält er das Plakat fest, während ich es mit Klebestreifen an der Tafel fixiere. Die Überschrift sollte klar und deutlich lesbar sein. Die Bilder müssten auch zu sehen sein. Wir haben alles. Alles klar. Wir können starten.

Fehlstart. Das Referat war der reinste Reinfall gewesen! Die Note ist nur befriedigend gewesen... Und damit soll ich mich zufrieden geben? Ihm ist es ja egal, aber mir doch nicht! Schließlich musste ich fast alles aufarbeiten. Das ist so unfair! Wieso ist so gut wie jeder so ungerecht zu mir? Wieso, verdammt? Niemand kann mich verstehen... Nicht einmal die, die es glauben zu können.

Zu Hause. Allein in meinem Zimmer. Es ist sehr still. Das ist angenehm und zugleich unangenehm... Nur die Musik meines Herzens ist bei mir und spielt mir das Lied der Sehnsucht vor. Meiner Sehnsucht. Ich kann einfach nicht mehr... Zumindest nicht ohne sie.

"Ja, jeder Tag ist genau wie der davor...
Wach ich auf, dann beginnt der blanke Horror...
Das Spiegelbild zu breit!
Dabei sind meine Hosen weit...
Obwohl ich viel für andere koch,
entsteht in meinem Herzen ein großes Loch.
Es wird gefüllt durch diese Leere.
In meinem Magen existiert keine einzige Beere!
Auch er ist leer und hungrig auf mehr!
Dabei macht mich Essen so schwer!
Ich darf nicht essen.
Weil infolgedessen
nehme ich nur weiter zu...
Ich will nicht so werden wie eine Kuh!
Diese Vorstellung macht mir echt Panik!
Lieber flieg ich weg wie ein Kranich...
Ich bin oft allein
und weine alles in mich hinein...
Da ist nichts. Nichts, was mich umhüllt.
Nichts, was mich erfüllt.
Ich bin und bleibe eben niemand.
Wie lange halte ich diesen Zustand noch stand?
Ich will wie ein Baby in ein Tuch eingewickelt werden...
Nur so werde ich bewahrt vor dem Sterben!"

Ich bin allein. Ziehe mich immer weiter zurück, weil nur alleine bin ich vor allem sicher. Alleine...

Den Tod vor Augen (Magersucht)Where stories live. Discover now