Den Tod vor Augen (Magersucht)

22. Verglüht

Es ist Dienstag und die Besucherzeit hat soeben begonnen. Als es klingelt, erwarte ich eigentlich niemanden für mich, aber...

"Dein Vater ist da." Mein Herz bleibt sofort stehen. Wer ist da? Wer? Mein Vater kommt wirklich rein. Er ist da. Er ist wirklich da. Nein... Lass diesen Moment nicht wirklich sein! Das kann doch nicht wahr sein!
"Warum besuchst du mich?" "Wieso sollte ich mein Kind nicht besuchen? Mensch, bist du groß geworden." "Fass mich nicht an!", schrei ich und wehr seine Hand, die meine Wange eben streicheln wollte, ab. "Entspann dich, Süße." "Hast du wieder geraucht?" "Wieso?" "Du stinkst." Er streicht über sein graues Haar. "Nein. Ich hab vor 30 Minuten aufgehört." Ich grinse ihn lächerlich an. "Toll." Das hat er ja toll gemacht. Er verschränkt wenig beeindruckt seine Arme. "Ach übrigens, ich hab was für dich, kleines." Er schenkt mir mit seiner alt aussehenden Hand einen Zeichenblock. "Oh, danke", sage ich leicht überrascht. Ich schlage ihn auf... Mir fällt sofort auf, dass es nicht einfach nur leere Blätter sind, die zum Befüllen gedacht sind. Nein. Es sind Blätter, die bedruckt sind. Auf ihnen wird Schritt für Schritt beschrieben, wie man Mangas zeichnet. "Wow... Cool, danke!", wiederhole ich mich, diesmal aber mit deutlich höherer Wertschätzung in der Stimme. Er nickt mich schwach lächelnd an. "Können wir mal... Raus?", fragt er.

Im Park zündet sich der Kerl sofort eine Zigarette an. "Nach der höre ich auf." "Klar." Das glaubt er doch selbst nicht! Er wird nie aufhören können. Es ist seine Sucht. "Magst du mich überhaupt?" "Lara, jeder Vater liebt seine Kinder." "Wenn du mich wirklich liebst, hör bitte auf zu rauchen!" "Ich kann nicht... Ich würde ja gerne. Aber wenn ich es mal versuche, werde ich ganz unruhig und nervös." Er hat Recht. Wenn ich zunehme, bin ich das auch. Dabei ist es doch gar nicht unbedingt etwas schlechtes. "Mama will eigentlich nicht, dass ich mit dir rede..." "Ich habe aber genauso wie sie ein Recht dazu dich zu sehen!" Er sieht mich beinah durchbohrend an, so hart trifft mich sein Blick! Autsch. Das hat wirklich so seine Wirkung. Sogleich werden seine Gesichtszüge wieder weicher und großzügiger. "Lass dich umarmen, kleines...", sagt er zärtlich. Er breitet seine Arme und seinen Gestank aus, nimmt mich in die Höhe und drückt mich danach ganz fest an sich. "Mein kleiner Spatz." Meine Augen fangen durch seine Worte an zu tränen... Wie lange ist das letzte mal jetzt schon her? Ich genieße diesen Moment einfach nur, denn er ist so einmalig wie kaum ein anderer. "Du bist wirklich einmalig. Mach was aus deinem Leben, nicht so wie ich. Werd' schnell wieder gesund, ja? Versprich mir das!" "Ver... Versprochen." Er drückt mich nochmals an sich, aber dafür etwas sanfter. Lass diesen Moment ewig sein. Er liebt mich. Ich wusste es... Soviele Menschen lieben mich, nur ich nicht... Ich hasse mich. Warum hasse ich mich? Vielleicht schätz ich mich bloß nicht... Da kommt mir eine Idee auf! Meine Mundwinkel ziehen sich nach oben. "Aber", widerspreche ich mit einem plötzlich aufkommenden Hintergedanken: "Ich möchte mit dir eine Wette schließen. Ich werde mein Bestes geben, aber du musst es genauso tun!" Er starrt mich an. "Wobei?" "Hör auf zu rauchen." Er lächelt verlegen: "Du bist ein wirklich schlaues Mädchen... Wirklich." "Also bist du dabei?" "Ähm... Naja... Ich weiß nicht... Nagut." "Toll!", freu ich mich: "Also weg damit!" Konsequent schlage ich ihm die Zigarette aus der Hand. Er erschrickt. Sie prallt auf dem Boden auf. Ein wenig Asche verteilt sich vor ihr. Traurig sieht mein Vater ihr beim Verglühen zu, bis sie letztendlich ganz erlischt... Zweifelnd schwach lächelnd dankt er mir. Ich spüre, wie zwei Teile tief in ihm miteinander streiten und kämpfen. Der eine will ja loslassen, der andere aber nicht - ähnlich wie bei mir.

Später, als er weg war, war ich... Natürlich alleine. Langsam laufe ich im Park von einem Baum zum anderen und wieder zurück, während ich das Buch interessiert durchstöbere.

Ich werde lernen Mangas zu zeichnen.