04. Fressattacke

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Samstag, 13:12 Uhr. Das Mittagessen habe ich nun mehr oder weniger hinter mich gebracht... Gestern habe ich noch wie jeden Freitag privaten Gitarrenunterricht gehabt. Deswegen übe ich jetzt ein bisschen... Ich glaube, dass ich echt schlecht spiele, auch wenn meine Lehrerin meinen würde, es wäre ganz okay. Ich bin nun mal nie zufrieden mit mir. Nie.

Naja, ich spiele ja auch noch nicht allzu lange... Plötzlich klingelt es und Mama geht ran. Wer ist da? Ich denke, dass ich es weiß.

Und ich wusste es. Kelvin kommt in mein Zimmer hoch. "Hallo Lara." "Hey." "Fangen wir an?" "Ja, klar." Ich zeige ihm meinen PC, starte ihn und melde mich an.

"Süßer Hintergrund", schmunzelt er. Ich werde rot wie eine Tomate... Auf dem Desktop ist ein schlankes Mädchen zu sehen, dass stolz einen Apfel in der einen Hand und ein Maßband in der anderen hält. "Bist du auf einem Abnehmtrip oder was?" "Nein!", ruf ich laut aus. Er hat mich wohl ertappt. Mist. "Du bist doch schon mega dünn." "Nein." Er sieht mich an, mustert mich... Ein unangenehmer Gedanke, sowas wie ein Befehl, kommt in mir hoch. Ich muss hier weg, befielt er. Ich versuche einen Ausweg zu finden... "Also, fangen wir mal an...", lege ich los und klicke auf den Google-Browser. Ich bin nervös.

Blutzucker. Glykämischer Index. Heißhungerattacken. Übergewicht. Bewegegungsmangel. Ewiger Teufelskreis.

Das sind Stichwörter unseres Themas, die mich widerspiegeln. Ich erkenne mich wieder. Grausam. Kein Wunder, dass ich Gewichtsprobleme habe! Heute Mittag habe ich auch nicht wirklich viel gegessen... Vielleicht drei Kartoffeln, etwa 280 kcal. "Ich geh mal schnell aufs Klo, mach du mal weiter." Er nickt und lächelt schief, was in dieser Situation irgendwie bescheuert wirkt.

Schnell renne ich runter zum Kühlschrank. Öffne ihn. Seh mir alles an. Der Geburtstagskuchen meiner Schwester. Ich sollte nicht. Wirklich nicht. Er gehört mir nicht einmal. Was wird sie bloß denken? Ach, ist doch auch egal! Sie wird mich wahrscheinlich nicht entlarven, denn sie würde sowas sicherlich nicht einmal von mir erwarten. Also rein damit.

Ein Stück.

Zwei Stücke.

Noch ein halbes Stück.

Ein kleiner Erdbeerjoghurt.

Ich schließe den Kühlschrank wieder. Mist. Warum habe ich das getan? Mir ist so schlecht! Ich fühle mich so voll... Jetzt ist eh alles egal. Ich hole mir aus dem Schrank noch eine Packung Chips, öffne sie und schüttel sie in eine Schüssel.

Ich esse eine Hand voll Chips.

Zwei Hände voll Chips.

Ich esse. Verdammt! Sofort stoppe ich. Ich darf doch nicht soviel essen! Ich bin so undiszipliniert! Ich hasse mich! Ich könnte heulen! Ich werde sicherlich 5 kg zunehmen! Wieso tu ich sowas überhaupt? Geht's mir noch gut? Ich bin so ein Schwein!

"Ähm, hallo?", fragt Kelvin erstaunt. Erschrocken seh ich ihn an. Er ist runter in die Küche gekommen und steht nun hier. Bitte fang nicht an zu heulen! "Ah, du wolltest uns Chips bringen? Ich hab mich schon gefragt, was du so lange auf dem Klo machst..." Weiß er wirklich nichts davon oder tut er nur so? Ich hatte eine Fressattacke! "Nein... Ähm... Ich glaube, ich brauche bloß ein wenig frische Luft. Ich habe... Ähm... Asthma. Ja genau, Asthma! Vielleicht gehen wir mal eine Runde um das Haus oder so?" "Ähm... Ja, wieso auch nicht? Du kannst mir ja mal die Gegend hier so zeigen und vielleicht ein wenig von deiner Krankheit erzählen... Asthma ist doch eine Krankheit, stimmt's?" "Ja, ist es... Klar, kann ich machen."

Eines Tages möchte ich eine Ärztin werden. Deswegen erkunde ich mich im Internet oft über Krankheiten, was diesmal sogar zu meinen Gunsten war! Ich bin so froh, mal etwas richtig gemacht zu haben. Wenigstens einmal. Mein ganzer Körper kribbelt. Ich habe solche Angst. Wie lange müssten wir laufen, damit mein Körper das alles wieder abbauen kann? Drei Jahre bestimmt! Ich würde echt viel lieber joggen statt so lahm zu gehen... "Wie lange hast du diese Krankheit denn schon?" Seit zwei Jahren. "Sie wurde bei mir mit fünf Jahren durch eine Hausstaubmilbenallergie ausgelöst." Er schaut nach unten auf den Weg, nicht auf mich. "Hat deine Mutter das auch?" Nein, zum Glück nicht. "Nein." "Musst du Medikamente nehmen?" Ich bleibe stehen. Das geht zu weit! Welche Medikamente man wann zur Behandlung von Asthma nehmen soll, weiß ich nun auch wieder nicht! Er soll bloß nicht zu weit ins Detail gehen! "Da hinten ist unser Teich!" Ich zeige erfreut auf ihn. Dieser Ort ist wirklich alles für mich. "Aha..." Ihm scheint es recht gleichgültig zu sein. Mal sehen, wie lange noch... "Komm mit!" Kurz nachdem ich das gesagt habe, sprinte ich rasend schnell dorthin! Das tut so gut! Meine braunen Haare, die bei mir normalerweise ein wenig über die Schultern gehen, schweben förmlich in der Luft hinter mir her! Am liebsten würde ich noch drei weitere Jahre so laufen! Warte, kommt das jetzt vielleicht komisch? Ich bin nämlich einfach so losgerannt. Ich hoffe nicht... Es dauert nicht lange, da bin ich da und er kurz darauf auch. "Was sollte das werden?", fragt er verdutzt. Ich lächel ihn ausgelassen an und glaube ganz plötzlich etwas in seinen smaragdgrünen Augen zu sehen! So etwas wie... Bewunderung? Sein schwarzes Haar fällt locker im kühlen Wind. Dieser scheint uns irgendwie was zuflüstern zu wollen... Was genau, das bleibt mir ein Geheimnis. Uns beiden. "Bist du hier oft?" "Gelegentlich." "Ah." Er blickt auf den Teich. Was denkt er? Fühlt er, was ich fühle? Diese Bedeutung?

Meine Gedanken, diese Krieger, die schon lange diesen Krieg führen, haben eine Attacke vorgenommen. Eine unkontrollierte Fressattacke fiel über mich her. Bomben explodieren und lassen alles erglühen... Kein Funke Hoffnung bleibt erhalten. Wut und Verzweiflung brennen jetzt in mir. Nun brauche ich etwas, um diesen Brand schnellstmöglich wieder zu löschen!

Den Tod vor Augen (Magersucht)Where stories live. Discover now