17. Gesteuert

1.4K 78 0
                                    

"Warum bist du weggelaufen?", fragt mich meine neue Therapeutin namens Frau Schneider aus dieser Station. Auch Mama ist hier. Die gnädige alte Frau hat heute Morgen die Polizei angerufen gehabt und sie haben mich sofort zurück in die Klinik gebracht... Ich muss ab jetzt in den Überwachungsraum - als ob ich nicht selber auf mich aufpassen könnte! "Keine Ahnung!", platzt es depressiv aus mir heraus. "Ich verstehe dich natürlich... Aber du musst auch uns verstehen." Ich nicke sie grimmig an. Es ist mir. Doch. Egal!

Später entließ sie mich vom Therapiegespräch zum Mittagessen, da das ja wichtig sei. Mama blieb noch zehn Minuten bei ihr da um mit ihr etwas zu besprechen...

Als ich in den Aufenthaltsraum eintrete, in dem sich im Übrigen auch die Küche und alles befindet, sitzen alle bereits am Tisch und essen. Nun komme ich, der größte Fresssack. Meine Therapeutin hat mir eben vorhin noch einen Stufenplan auferlegt, den sie, ich, meine Mama und einer der Betreuer unterschreiben mussten. Er ist folgender Maßen aufgebaut: Es gibt insgesamt acht Stufen. Bei jeder neuen Stufe bekomme ich sozusagen mehr "Freiheiten". Um eine neue Stufe erreichen zu können, muss ich ein Kilogramm zunehmen. Außerdem gibt es dann immer noch eine einmalige "Belohnung" beim Erreichen einer neuen Stufe, die ich mir selbst aussuchen darf. Mein, besser gesagt deren Zielgewicht beträgt 54 kg...

Das Essen steht bereits fertig gerichtet am Tisch. Es gibt Kartoffeln mit einem panierten Hähnchenschnitzel und so einer Soße. "Ich esse kein Fleisch", äußere ich mich. "Oh. Achso. Entschuldigung!" Thomas steht auf, nimmt den Teller von mir und misst mir danach das vegetarische Essen ab und schmeißt das Alte weg. Armes Essen...

"Guten Appetit." "Gleichfalls..." Ich nehme Gabel und Messer in die Hand. Es gibt wieder Kartoffeln, aber mit einer Gemüsebeilage und einer Rahmsauce. Ich schneide ein klitzekleines Stück der Kartoffel ab. Thomas redet gerade mit den anderen, lacht und scheint nicht auf mich zu achten. Gut so. Ich lass das Stück unter den Tisch fallen. Hat es jemand bemerkt? Ich glaube nicht. Nochmals schneide ich ein kleines Stück ab. Er schaut weg. Perfekt. Als mir auf einmal auf die Schulter geklopft wird, stopfe ich das Stück sofort in meinen Mund! Ein kalter Schauer überläuft meinen Rücken. "Nur damit du es weißt... Auch die Putzfrau freut sich, wenn sie weniger Arbeit hat", spricht mir Julia leise, aber streng in mein Ohr hinein. Ich kann doch nichts dafür! Ich würde ja eigentlich gerne normal essen, aber solche Portionen sind doch nicht mehr normal! Außerdem kontrolliert mich da etwas... Etwas steuert mich und passt auf meine schlanke Linie auf. Es ist für mich wie Fluch und Segen. "Keine Sorge. Ich pass auf dich auf, wenn du es nicht kannst." Sie setzt sich zurück an den anderen Tisch, bei dem auch ein paar Jugendliche sind, lässt aber stets ein Auge bei mir. Ich fühle mich beobachtet... Unwohl... Ich hab doch gar keinen Hunger! "Nachher startet die Besucherzeit. Kommt jemand bei euch?", fragt Thomas uns alle am Tisch. Alle antworten nacheinander. Ich bin wohl die einzige, die nicht entspannt und heiter ist. "Bei mir kommt niemand denk ich." Ich habe ja meine Mutter schon heute gesehen.

Nachdem ich meine Stunde "Sitzzeit" nach dem Essen vollbracht habe, kommen auch schon die ersten Eltern. Was Sitzzeit ist? Es ist tatsächlich das, wonach es sich anhört! Sitzen nach dem Essen, eine Art Bestrafung oder Freiheitsraub. Ich darf malen und so, aber nicht aufstehen, nicht einmal aufs Klo! Das muss ich nämlich "vorher machen". Was ist das für eine verkehrte Welt? Ich will raus, Sport machen, Kalorien abbauen! Es klingelt. Zuerst kommt nur wieder mal noch ein Elternpaar herein, doch hinter ihnen kommen welche, bei denen ich niemals erwartet hätte, dass sie mich mal besuchen kommen würden...

Den Tod vor Augen (Magersucht)Where stories live. Discover now