21. Eintönig

1.4K 73 7
                                    

Weiß ist die Farbe der Hoffnung. Rot ist die Farbe der Liebe. Schwarz ist die Farbe der Trauer. Es gibt so viele Farben auf dieser Welt... Wahrscheinlich können wir sie nicht einmal alle sehen. Wahrscheinlich sieht sie auch jeder anders. Die einen greller und heller, die anderen dunkler und blasser... Mit welcher Farbe wurde mein Leben wohl gezeichnet?

Ich bin mir nicht sicher, aber wenn ich so darüber nachdenke, ist es schon ziemlich eintönig... Insbesondere hier. Es besteht doch nur aus Essen, Trinken und Schlafen. Das einzige, worauf ich mich zur Zeit wirklich freuen kann, ist der Film... Das ganze scheint wirklich ein großes Projekt zu werden. Unser großes Projekt.

Es beginnt mal wieder ein neuer Tag hier. Es ist Montag. Es ist 7:00 Uhr. Es ist Aufstehzeit. Die Betreuer klopfen wie jeden Morgen an allen Zimmern an und informieren uns darüber, dass wir uns fertig machen sollen und danach in den Aufenthaltsraum auf das Sofa kommen müssen. "Ach, und Lara! Kommst du bitte dann gleich mit mir noch kurz zum Wiegen mit?", fordert mich Julia freundlich, aber strikt auf. Na klar, die Waage auch noch.
Nachdem sie mich gewogen und sich das Gewicht notiert hat, darf auch ich mich auf das Sofa des Aufenthaltsraumes setzen. Ich gehe hin und lasse mich nieder. Die Küche und die Esstische befinden sich übrigens auch hier im selben Zimmer. Jeder wird gerade gefragt, was er zum Trinken haben möchte. Die Betreuer füllen denjenigen dann das gewünschte Getränk ein und stellen es ihnen auf den Platz, während wir hier sitzen, ein wenig reden und geduldig warten. Jeder außer mir wird gefragt. Mir wird ein Glas Milch mit Kakao abgewogen. Ein Brötchen mit Butter und Marmelade steht bereits an meinem voraussichtlichen Platz.
Nachdem endlich jeder sein Getränk auf dem Tisch stehen hat, dürfen wir kommen und uns setzen. Jeder greift sich aus dem Brotkorb ein Brötchen. Jeder außer mir. Ich hab es ja nicht mehr nötig.

Nachdem auch das Frühstück endlich zu Ende ist, sammeln sich alle Jugendliche einer Klassenstufe in je einer kleinen Gruppe zusammen. Es gibt Unter-, Mittel- und Oberstufe, also insgesamt drei Gruppen. Nach der Versammlung gehen wir aus der Jugendstation raus und die Treppenstufen hoch zur vierstündig andauernden Schule, für mich persönlich ist das das erste mal seit langem.

Der Unterricht hier läuft eigentlich so ähnlich wie in der richtigen Schule ab... Nur ist der IQ-Unterschied der einzelnen Schüler hier eindeutig höher. Naja... Niemand ist perfekt - und selbst wenn: Man könnte doch gar nicht perfekt sein, weil jeder etwas anderes unter perfekt versteht. Was ist dann schon perfekt...?

Keine Ahnung, ist jetzt auch nicht so wichtig. Der Tag hier geht definitiv ziemlich schnell herum... Als auch die Schule und das daraufhin folgende Mittagessen vorbei sind, beginnt sogleich die Musiktherapie - wieder ist es das erste mal für mich. Auch hier hat mich Frau Schneider angemeldet. Wir gehen dort als ausgewählte Gruppe, nachdem wir uns alle versammelt haben, hin.
Der Therapeut dort ist groß und dürr - wir sollten wirklich Plätze tauschen. Er ist doch auch nur Haut und Knochen! Ernsthaft, das gibt alles gar keinen Sinn...
Bei ihm dürfen wir einfach nur frei improvisieren. Lauter Instrumente stehen in seinem Raum herum. Jeder nimmt sich eines. Ich nimm natürlich die Gitarre zur Hand. Zuerst beginnen wir ruhig, tasten uns dann aber langsam an einen ungeordneten Rocksong heran! Besonders die Jungen scheinen hier ihren Spaß zu haben. Wir spielen etwa drei Minuten lang, es kommt mir aber wie eine ganz schön lange Weile vor.

Er hebt ganz plötzlich die Hand hoch, solange bis wir alle verstummt sind, und kommt zu Wort: "Ich habe gehört, dass ihr einen Film drehen wollt? Frau Rudolf hat mich darüber angesprochen und gemeint, ihr bräuchtet Filmmusik." Filmmusik? Das wäre ja toll! In der restlichen verbleibenden Stunde studieren wir ein im Ohr bleibendes Stück ein und nehmen es zum Schluss noch auf. Es klingt wunderschön... Melancholisch, aber auch Hoffnung sowie Zweifel stecken drin... Und auch ein wenig... Intelligenz? Nagut, das klingt komisch. Musik kann nicht denken, sie bringt uns nur zum nachdenken.

Egal. Auf jeden Fall sind diese eineinhalb Stunden mit Sicherheit die schönsten meines Tages gewesen! Abends befinde ich mich wieder mal im Überwachungsraum... Es fühlt sich ziemlich einsam an. Auf einmal klopft es. "Nachtruhe", lächelt Astrid mich im leichten Flüsterton an. Ich nicke einverstanden und lächel sie ebenfalls an. Sie schließt die Tür danach leise zu. Kurz darauf gehe ich nochmals schnell zum Waschbecken und schneide Grimassen im Spiegel ab. Ich strecke meine Zunge raus, grinse komisch und und halte meinen Kopf schief - ähm, was mache ich da eigentlich überhaupt? Übe ich für meine schauspielerischen Talente oder was? Ich denke, ich sollte dann mal aufhören... Ich rolle mich auf meine Zehenspitzen und seh vom Spiegel aus nach unten auf meine Beine. Eigentlich schon recht dünn... Aber dicker sollten sie nicht werden. Wieder steh ich auf der ganzen Fußfläche, hol mir meinen Schlafanzug, zieh mich um, schalte das Licht aus und gehe ins Bett. Bevor ich mich richtig hinlege, mache ich noch mit ein paar kleinen Pausen zwischendurch 50 Liegestützen. Erst dann mach ich mich auf dem Bett breit und versuche an etwas schönes zu denken... Es gelingt mir nicht. 1000 Erinnerungen blinken auf. 1000 schrecklich schöne vergangene Erinnerungen...

Wie ich das Fahrradfahren lernte.

Wie ich mit meiner Schwester immer spielte und ihr dabei ausversehen weh tat.

Wie ich mit meiner durch Süßigkeiten prall gefüllten Schultüte fotografiert wurde.

Alles ist weg. Alles ist vergänglich. Diese Lara gibt es nicht mehr!

Sofort beginne ich zu weinen... Es ist hoffnungslos! Ich bin hoffnungslos! Ich möchte einfach nur als hoffnungsloser Fall entlassen werden und nach Hause geschickt werden. Diese ganzen Erwartungen sind doch viel zu hoch für mich! Ich schaff das einfach nicht. Ich kann das nicht...

Als ich einschlafe, träume ich vom Unterricht der Schule, der richtigen Schule... Wie ich aufgerufen werde, aber nicht laut genug spreche und mich der Lehrer dazu auffordert es nochmal zu sagen. Meine Antworten sind dann meistens richtig gewesen... War es die Scheu oder doch nur einfach die nicht hundertprozentige Sicherheit die Frage richtig zu beantworten, was für meine seltenen Meldungen verantwortlich war - ich weiß es nicht. Ich war als die nichts erzählende bekannt, also damit eigentlich gar nicht. Das war meine Art und Weise. Das war ich. Das war der Ton, der mir meine Farbe verlieh. Niemand kannte diese Farbe. Niemand. Auch wenn ich nur ein winzig kleiner Klecks auf diesem großen Gemälde, auf dem der Fleck jedes einzelnen Menschen dieser Welt abgebildet ist, war, bin ich dennoch immerhin noch nicht verwischt. Ich bin noch da.

Den Tod vor Augen (Magersucht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt