Oh, ein Reh!

2.1K 89 2
                                    

Hi Leute, ich hab doch WLAN in dem Strandhaus in Byron Bay, wo ich gerade bin. Leider wird der Strand keine Szene für das heutige Kapitel (kommt noch irgendwann!), sondern es wird eher etwas ernster, aber dafür ist dieses Kapitel etwas länger. Ausserdem wird es in diesem Kapitel in der Vergangenheit spielen. Wie ihr wahrscheinlich schon gemerkt habt, nehme ich gerne Songtitel als Kapiteltitel her, teils von Trailerpark, Alligatoah und Timi Hendrix, teils von anderen Bands. Songs helfen mir, bestimmte Szenen besser festzuhalten und die dann zu beschreiben - jedes Kapitel hängt also mehr oder weniger mit dessen Titel zusammen. Das ist vielleicht etwas kitschig, aber irgendwie funktioniert's ganz gut mit der allgemeinen Geschichte.

Titel: Oh, ein Reh - Grossstadtgeflüster

___________________________________________________________________________

Flashback nach 2009, Bielefeld

POV Timi

Unser Label Trailerpark hat das erste Album veröffentlicht - Crackstreetboys. Ich war überglücklich - obwohl Skinny Shef und ich schon seit langem rappen und Alben produzieren, war dies mein Baby. Mit Basti und Sudden bildeten wir ein Superteam. Das Album wurde großartig - viele geile Songs und die besten Featureacts, die wir kriegen konnten. Als ich es meiner Freundin Emily erzählte, war sie nicht gerade beeindruckt: auch wenn ich kein Abitur hatte und auch nie vorhatte, dies zu ändern, wollte sie aus mir einen Anwalt, Arzt oder sonst irgendetwas „Anständiges" machen. Sie wusste, dass ich Drogen nahm, und sie wusste, dass Rap mein Leben war. Und doch ließ sie nie locker:

„Tim! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich deine Raphampelmänner nicht in unserem Haus haben will!", warf sie mir an den Kopf. Ich versuchte, Emily nicht zuzuhören, aber alles, was mir unterstellte, biss sich in mein Gehirn. Ich presste meine Hände an meinen Kopf und schloss die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein!

„Das ist meine Crew! Ohne die würde ich es nicht weiter in der Musikszene bringen." Ich setzte mich auf die Couch und zückte mein Feuerzeug und einen Beutel Weed, um meine Bong zu rauchen.

„Kiffst du jetzt schon wieder? Wie soll das denn funktionieren?", ignorierte sie meine Aussage.

„Was genau jetzt?", war meine Frage, nach einem heftigen Zug meiner Bong.

„Dein verficktes Leben! Unser Leben! Wie willst du die Miete bezahlen??", schrie sie mich wie eine Furie an.

„Das wird schon. Notfalls kann ich ja was anbauen." Und zack! hatte ich eine Pfanne an den Kopf bekommen.

„Au! What the fuck?"

Sie starrte mir nur halb stolz, halb wutentbrannt an.

„Weißt du, Tim, ich brauch dich nicht. Und deine Musik schon gar nicht!" Sie drehte sich um und packte ihren Sachen. Und ich stoppte sie nicht einmal. Ich hatte keine Lust und blieb deshalb auf der Couch sitzen. Wir hatten uns schon lange auseinander gelebt. An dem Abend schoss ich mich komplett ab: Weed, Speed, Ecstasy. Wasimmer ich finden konnte. Das war das erste Mal, dass ich mehrere Drogen mischte und komplett versank.

Flashforward 2011, Berlin

POV Lukas

Heute war der Tag, an dem mich das Label Trailerpark unter Vertrag nahm.

Ich hatte die Jungs schon öfters performen gesehen und konnte mir deren Charaktere gut zuordnen: Basti war der Boss, der Kokser, der faule Alles-macher, Sudden war der coole Typ, dem die Mädels haufenweise verfallen und Timi war der Junkie. Timi fiel mir am meisten auf. Die Brille, der Hut, die Tattoos und vor allem das leichte Lispeln. Wie konnte man damit nur rappen? dachte ich anfangs. Aber irgendwie schien es zu funktionieren und zu seiner Persönlichkeit zu passen. Ich fühlte mich sofort wohl hier, auch wenn die Substanzen, die gerne bei Trailerpark auf den Tisch kommen, nicht gerade meinem Geschmack entsprachen. Ich nahm keine Drogen. Ich kiffte selten - fast gar nicht - es war eher Alkohol, dem ich verfallen war.

Nach ein paar Probesessions saßen Timi und ich zusammen und redeten. Während er an seiner Zigarette zog und mir erzählte, wie er das Label gründete, hatte ich Zeit, ihn mir anzuschauen. Er war eigentlich ein sehr dünner Mann, mir ähnlich in der Art. Ich betrachtete die Tätowierungen auf seinen Armen und Händen.

An dem Abend lag ich wach im Bett bei meiner Freundin Anna zuhause, die etwas abseits von Berlin lebte und dachte über meine neue Band nach. Irgendwie waren wir schon ein lustiger, zusammengewürfelter Haufen - fast wie eine gecastete Boyband. Timi vor allem war ein interessanter Typ. Ich schaute neben mich, wo Anna schlief. Damals dachte ich, wir würden für immer zusammen bleiben. Ich stand auf und ging in die Küche. Heute abend war Vollmond. Das Licht des Mondes schien durch das Küchenfenster und erhellte den ganzen Raum. Ich fuhr mir durch die Haare und ging zum Kühlschrank. Ich starrte in dessen Innere und entschied mich schließlich für ein Käsebrot und ein Bier. Damit bewaffnet setzte ich mich auf den Balkon und genoss den warmen Sommerwind. Ich beobachtete das Gebüsch, als plötzlich ein Reh heraussprang und sich leicht panisch umhersah. Es beugte sich ins Gras und aß ein bisschen bis es hochschrak und wegsprang.

Flashforward Januar 2015

Ich saß auf der Couch, in T-Shirt und Boxershorts; am anderen Ende saß Anna. Sie trug einen übergroßen, grauen Pullover, den sie über die nackten Knie spannte. Darunter trug sie nur einen Slip. Ihre rotblonden Haare waren zerzaust und hingen ihr ins Gesicht. Der Mascara um ihre Augen war verwischt und sie starrte den Boden an. Sie sah sehr zerbrechlich aus.

„Das wird nichts mehr mit uns, oder?", fragte sie mich.

„Nein", antwortete ich nach einer kurzen Pause.

„Wir haben es echt versucht, aber ich kann nicht mehr. Du hast es zweimal gemacht, Anna!" Keine Reaktion.

„ZWEIMAL!", schrie ich sie an.

„Ich wollte das doch nicht! Ich....ich war doch so einsam, als du auf Tour warst! DU bist doch immer weg!", verteidigte sich Anna, weinend.

Ich stand abrupt auf, nahm das Glas, das auf dem Wohnzimmertisch stand und warf es gegen die Wand. Es zersplitterte in tausend kleine Teile.

„Hör auf mit der Scheisse! Ich kann es nicht mehr hören!", schrie ich und verließ das Zimmer, nicht ohne die Tür laut zuzuschlagen. Ich packte ein paar meiner Sachen zusammen und verließ Annas Wohnung. Auch wenn ich hier eigentlich mit eingezogen war, hatte ich nie wirklich Platz für meine eigenen Sachen gehabt. Was für eine Scheisse! dachte ich mir, als mir eine Zigarette anzündete. Ich rauchte eigentlich kaum, nur wenn ich sehr gestresst bin. Ich nahm mein Handy aus der Tasche und scrollte durch meine Kontakte. Wen könnte ich jetzt anrufen? Ich war ja jetzt quasi obdachlos. Basti, nein, der würde sich nur lustig machen. Sudden, ugh, eigentlich hatte ich grad echt keine Lust auf dessen Gesellschaft. Timi? Perfekt.

L: bin obdachlos. Kann ich bei dir pennen? Läuft grad echt scheisse.

T: wie das? Klar, aber du weisst schon, dass du dafür nach Bielefeld musst ;-)

L: macht nichts, bin fast schon am Bahnhof und bin in zweieinhalb Stunden bei dir :-*

Der Kussmund war eigentlich nur als Spaß gemeint, aber irgendwie erschien er mir passend. Ich wollte schon seit längerem lieber bei Tim sein als bei Anna. Ich fühlte mich wohler bei ihm; bei ihm konnte ich ich sein, musste mich nicht verstellen, er verstand wer ich war und gab mir Zeit, alleine zu sein.

Ich saß nun im Zug nach Bielefeld und mein Herz schlug immer schneller, je näher ich Timi kam. Als ich am Bahnhof ankam, sah ich ihn schon von weitem und freute mich, dass er mich abholte. Er winkte mir und ich lief auf ihn zu.

„Scheisse gelaufen, was?", fragte Timi.

„Ach, frag nicht."

„Es ist gut, dass du sie verlassen hast, Lukas. Seit Monaten verarscht sie dich von hinten bis vorne!"

„Ich weiß..."

„Komm. Ich war einkaufen und wollte uns ein nettes Abendessen machen". Timi schlug mir auf die Schulter und wir fuhren zu ihm nachhause.

Die €80, die ich für die Zugfahrt zahlen musste, waren es wert.



Lass liegen bleibenOnde as histórias ganham vida. Descobre agora