Kapitel 12

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Nach dem seltsamen und besorgniserregenden Gespräch mit Daven, meldete Aylin sich rasch krank bei der Krankenschwester, wie es ihr gesagt wurde, und ging diesmal jedoch nicht einfach in ihr Zimmer zurück.

Sie fühlte sich plötzlich eingeschlossen - als würde sie ersticken, wenn sie nicht sofort frische Luft bekam. Also rannte sie nach kurzem Überlegen rasch durch die Eingangshalle zur riesigen zweiteiligen Tür, durch die es auf das ebenfalls riesige Gründstück um das Internat herum ging.

Sie stürzte die vielen Treppen hinunter und blieb erst stehen, als knirschender Kies ihre Schuhe umgab.
Keuchend stützte sie sich mit den Händen auf ihren Knien ab und atmete erstmal tief durch.

Das war einfach zu viel gewesen. Und obwohl sie Daven gerne einfach für verrückt erklährt hätte...konnte sie es nicht.

Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass er die Wahrheit gesagt hatte - dass der Traum wohl nicht der Normalität zuzuordnen war.

Sie sah auf. Es hatte angefangen zu nieseln und sie blinzelte, als ein paar Tropfen nahe an ihren Augen zur Erde fielen.

Sie genoss das kühle Nass. Es schien sie auf den Boden der Realität zurückzuholen und sie vor der beinahe-Panikattacke zu retten.

Noch ein paar tiefe Atemzüge nehmend, beschloss Aylin sich die Beine zu vertreten und begann einem kleinen Weg zu folgen, welcher sie recht bald um eine Ecke des Gebäudes führte. Der eindrucksvolle Wald, welchen sie schon bei ihrer Ankunft bewundert hatte, erstreckte sich nun vor ihr. In dem trüben Licht, welches das Wetter verursachte, wirkten die dunklen Schatten der Bäume beinahe ein wenig unheimlich. Der Weg, welcher in ihn hinein führte, wurde nun breiter und bevor Aylin sich versah, hörte sie dicke Äste über sich knacken und Blätter im Wind rauschen.

Das dichte Blätterdach über ihr verhinderte ebenfalls, dass der Regen weiterhin auf sie herunter prasselte, was sie nun doch etwas erleichterte.

Ohne ihr eigenes Zutun, wanderte Aylin immer tiefer in den Wald hinein.
Sie war fasziniert von den riesigen, uralten Bäumen, welche sich teils seltsam krümmten und anscheinend wirklich schon jahrhunderte an ihrem Platz standen.

Sie musste auf einmal an das Märchen von Schneewittchen denken, in dem das Mädchen von einem Jäger auf Befehl der grausamen Stiefmutter zum sterben in den Wald gejagt worden war.

Es schauderte sie, als sie an die alte Geschichte dachte, welche ihre Mutter ihr früher immer erzählt hatte. Erst jetzt fiel ihr auf wie still es plötzlich um sie herum geworden war. Normalerweise liebte sie das an Wäldern. Sie schienen einen komplett von der Außenwelt abzuschotten, was ein rauchender Kopf manchmal wirklich gut gebrauchen konnte. Aber an jenem Tag entspannte es sie nicht wirklich. Es beunruhigte sie eher.

Etwas nervös ging sie weiter und blieb wie angewurzelt stehen, als sie einen Ast in ihrer Nähe knacken hörte. Als sie danach nichts weiteres mehr wahrnahm entfuhr ihr ein hektisches Lachen.

"Vielleicht werde ich ja jetzt zusätzlich auch noch paranoid...", murmelte sie und beschloss bald den Rückweg anzutreten.

Im Bett war sie wohl doch besser aufgehoben.
Zumindest, wenn sie nicht schlief.
Ungewollt beschleunigte sie ihre Schritte, als die Minuten verstrichen.
Ihr war gar nicht aufgefallen wie tief sie schon in den Wald gewandert war.
Aus den Augenwinkeln meinte sie nun einen Schatten zu bemerken, welcher schnell von einem Baum aus hinter einen anderen gehuscht war.
Sie ging noch schneller und zwang sich regelmäßig ein- und auszuatmen.
Es war sicher nur ein Tier gewesen. Ganz bestimmt.
Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihr, als sie einen großen, hellen Fleck am Ende des Wegs sah.
Als sie endlich wieder aus dem Wald heraustrat, bemerkte sie, dass es nun wirklich angefangen hatte, in Strömen zu gießen.
Rasch suchte sie mit den Augen nach einem Platz zum Unterstellen, denn länger im Wald bleiben wollte sie sicher nicht. Diesen Platz fand sie jedoch nicht, deswegen musste sie wohl oder übel den längeren Weg zur Eingangstür des Internats auf sich nehmen und riskieren, dass sie klitschnass wurde.

Und genau das wurde sie.
Keuchend und von Kopf bis Fuß vor Nässe triefend betrat Aylin wieder die Eingangshalle. Na, das war ja ein wunderbarer Ausflug gewesen.
Schnell machte sie sich auf den Weg in ihr Zimmer, denn sie frohr nun wirklich gewaltig und sie wollte nicht auch noch wirklich krank werden, wie alle grade annahmen.
Angekommen, schnappte sie sich ihr Handtuch und raste zum Gemeinschaftsbad unter die heiße Dusche.
Während sie das heiße Wasser erstmal eine Weile über ihren Rücken laufen ließ, schloss sie die Augen.
Aylin versuchte gar nicht erst ihre Tränen zurückzuhalten, welche gemischt mit Wasser bald ihre Wangen hinunterliefen.
Was stimmte bloß nicht mit ihr?
Verzweifelt lehnte sie sich gegen die kühle Wand der Dusche.
Erst die Halluzination, dann dieser Traum und jetzt bekam sie auch noch Angst in einem alten Wald? War der Schatten wieder nur eine Halluzination gewesen?

'Das alles passiert, seit ich in dieses Internat gekommen bin...', schoss es ihr plötzlich durch den Kopf und sie runzelte die Stirn, während sie das Wasser abdrehte und ihr Handtuch nahm.
Nein. Unmöglich. Das konnte nichts mit dem Internat an sich zu tun haben, sie war nicht abergläubisch.
Kopfschüttelnd verwarf Aylin den unsinnigen Gedanken und verließ das Gemeinschaftsbad.
Wieder im Zimmer angekommen, schlüpfte sie abermals in ihren Schlafanzug und legte sich auf ihr Bett.
Wieder und wieder ging ihr das Gespräch mit Daven durch den Kopf, aber ihre Augen begannen sich auch zu schließen. Der extreme Schlafmangel ließ die Müdigkeit wie einen Stein auf sie herabfallen und bald wurden ihre Atemzüge regelmäßig, als sie in den Schlaf glitt.

Wieder läuft Aylin den unbekannten Gang entlang. Jemand verfolgt sie. Das Mondlicht scheint durch die Fenster. Sie ist panisch. Doch diesmal ist etwas anders. Der Gang endet und biegt nach links ab. Aylin bleibt abrupt und schockiert stehen, als sie plötzlich einen Jungen, der ihr den Rücken zugekehrt hat, vor sich stehen sieht.
Ihr Verfolger ist verschwunden.

Der Junge hat hellbraune Haare und ist mehr als einen Kopf größer als sie. Er trägt eine Schuluniform. Sie besteht, soweit Aylin erkennen kann, aus einer blauen typischen Anzugjacke und grauen Hosen.

Als Aylin einen Schritt auf den Jungen zumacht, dreht dieser sich um und sieht sie erstaunt an. Aylin weicht erschrocken zurück.

Er hat ein niedliches Gesicht und unnatürlich strahlend blaue Augen, welche sie nun neugierig anblicken.
Als Aylin ihn weiter mustert, entdeckt sie auf seiner linken Brust ein Wappen auf seiner Uniform.
Zwei verschnörkelte und ineinander verschlungene Buchstaben, welche Aylin erst beim zweiten Hingucken entziffern kann.

M.A.

Sie ist total verwirrt. Die Panik ist verflogen, aber sie ist immer noch verunsichert.
Sie erkennt weder diese Schuluniform, noch den Jungen vorsich.
Doch bevor Aylin auch nur den Mund aufmachen kann, um eine Frage zu stellen, dreht der Junge sich plötzlich blitzschnell um und rennt davon.

"Nein!", ruft Aylin und nimmt die Verfolgung auf. Doch der Junge entfernt sich unnatürlich schnell von ihr und bald kann sie ihn nicht mehr sehen. Sie hat erneut nur wieder einen endlosen Gang vor sich.

Sie ist ganz allein und das trübe Licht, dessen Ursprung sie nicht finden kann, umgibt sie.
Aylin spürt die Panik wieder in sich aufsteigen, als sie erneut Schritte hinter sich hört.

Obwohl sie außer Atem ist, beginnt sie erneut um ihr Leben zu rennen, weg vor ihrem unbekannten Verfolger.

Mitten im Lauf bekommt sie plötzlich eine absurde Idee und sieht an sich herunter. Was sie sieht ist schockierend.

Blaue Jacke, grauer Faltenrock und Strumpfhosen.

Auf ihrer linken Brust prankt das fremde Wappen.

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