Kapitel 22

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Michael hätte gern darüber gelacht, dass seine versteckte, zurückgezogene und traurige Seite bitter schmeckt.

Sein Schatten gleitet wie zähes Wasser seinen Hals hinunter, und kaum ist er in seiner Körpermitte angekommen, wiegt er schwer wie ein Stein. Die innewohnende Kälte trifft ihn mit einer niederschlagenden Müdigkeit. Er schließt die Augen und lässt sich in ein weites Nichts hinabgleiten. Seine Heimatstadt schwindet, Wes verklingt als fernes, furchterregendes Echo.

Ist er von Wes durch einen betäubenden, von Schwerelosigkeit geprägt Sturm gezerrt worden, wandelt Michael nun durch undurchdringlichen Nebel. Und er fühlt sich beinahe heimisch an, weder fremd noch unangenehm, als könne er sich in dem seltsamen Nichts überhaupt nicht verirren. Zudem scheint er ihm Kraft zu schenken, jene, die er die letzten Sprünge durch die Zeit über verloren hat.

Meine Erinnerungen kehren zurück.

Und mit ihnen alle Eindrücke, die er im Reich gesammelt hat. Dann erscheint der Boden unter seinen Füßen, er kommt sanft auf. Die undurchdringlichen Nebelschwaden ziehen sich zurück, werden zu kleinen Wölkchen und lösen sich zu den Wänden seines Wohnzimmers hin vollständig auf.

Michael öffnet die Augen.

Leere Wände, sein Klavier und die Nacht offenbarende Fensterfront – alles da. Er ist zurück.

Ich bin zuhause.

Er verharrt dort einen Augenblick, betrachtet jede Ecke seines Zimmers, ob nicht doch Wes' Wut mit ihm gereist ist und ihm der ein oder andere Gegenstand gleich um die Ohren fliegt. Doch nichts geschieht, alles bleibt friedlich.

Daraufhin wendet der Pianist sich ab, geht auf wackeligen Beinen ins Schlafzimmer und schaut aufs Handy. Ungläubig liest er das Datum von der Nacht ab, in der er durch das Tor gereist ist. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein, während er sie kreuz und quer durchwandert hat.

Ich bin wieder da.

Michael muss es sich laut vorsagen.

„Ich bin wieder da."

Und er weiß schon, was er als nächstes tun muss. Denn nun gibt es keinen Grund mehr, sich zu fürchten.

Er geht in die Küche, beugt sich über den Papierkorb und holt alle Zeitungen und Prospekte heraus, die er gefühlt vor Jahren dort hineingestopft hat. Michael blättert jede einzelne Seite um, bis ein kleines, länglich weißes Papier zum Vorschein kommt. Mit zitternden Fingern greift er nach dem Briefumschlag, begutachtet die von Hand geschriebene Adresse und den Namen der Absenderin. Tatsächlich. Wes hat die Wahrheit gesagt.

Michael nimmt einen tiefen Atemzug, wappnet sich. Denn selbst wenn er nicht mehr fürchtet, was darin steht, ist ihm vor Nervosität schon ganz flau im Magen. Also geht er mit dem Schriftstück ins Schlafzimmer, setzt sich aufs Bett und sammelt alle Ruhe in sich, die er nach dieser Reise noch auftreiben kann.

Dann reißt er den Umschlag auf, entfaltet das Papier und fliegt über die Zeilen. Verwirrt dreht Michael das Blatt, falls ihm nicht doch noch etwas entgangen ist. Aber sonst steht dort nichts.

Er weiß nicht, was er erwartet hat aber lediglich drei Wörter auf der ganzen Seite sind dann doch eine Überraschung. Die schwarzen Buchstaben prangern auf der lupenreinen Seite.

Sich bei Nachrichten oder Gesprächen kurz zu fassen, ist alles andere als verwunderlich für Violet. Der Inhalt ist allerdings mehr als ungewöhnlich. Denn Michael hat sie diese Worte noch nie sagen hören. Weder zu ihm noch seinem Vater, nicht einmal in ihren Gedanken. Es gab eine Zeit, da Michael bezweifelte, ob sie dazu überhaupt fähig ist.

Auf den ersten Blick scheint das der größte Widerspruch zu sein, den er je von seiner Mutter zu Gesicht bekommen hat. Doch auf den zweiten, der alle Informationen des Reichs berücksichtigt ...

Es muss sie einiges gekostet haben.

Michael liest die Zeile ein zweites und drittes Mal, wieder und wieder. Die geraden Buchstaben prägen sich in sein Gedächtnis ein. Der Michael vor der Reise hätte ihn vielleicht gar nicht erst geöffnet, es für einen Trick seiner Mutter gehalten, ihn zurückzuholen. Und ein Teil seiner selbst denkt noch immer so. Dennoch kann er nicht aufhören, an die liebevolle Violet von früher zu denken, ob sie noch irgendwo in ihr versteckt ist, hinter tausenden von Schutzmauern. Die Mutter, die er da kennengelernt hat, hätte das nie geschrieben, um ihn zu manipulieren.

Und selbst wenn es doch so ist, muss er es herausfinden: Warum schreibt sie diesen Brief, warum jetzt?

Michael faltet das Papier zusammen, steckt es in den Umschlag zurück und wirft ihn neben sich aufs Bett. Dann stromert er durch die ganze Wohnung, packt alles, was er für die Reise benötigt, in seinen Koffer und sucht nach dem nächsten Zug, der ihn in die Heimat zurückführt.

Zurück im Schlafzimmer packt er die Nachricht seiner Mutter, betrachtet seinen Inhalt ein letztes Mal, als befinde sich darin die letzte nötige Portion Mut, sein Vorhaben auch in die Tat umzusetzen.

Was er mit diesen Worten anfangen will und was sie für ihn bedeuten, kann nur er selbst entscheiden. Doch das kann er nicht tun, ohne zuvor ihre Absichten dahinter erfahren zu haben. Violet hat ihre Familie verloren und wenn das wirklich ihr Versuch sein sollte, sie zurückzubekommen, will er ihr eine Chance geben. Hören, was sie selbst zu ihrer Geschichte zu sagen hat.

Denn Michael kennt nur ihre Gedanken von damals und den Fluch, in dem sie gefangen war und den sie all die Jahre mit sich herumgetragen hat. Das löst den Schmerz zwar nicht auf, der in ihren Worten und seinen Erinnerungen lauert aber vielleicht kann er ihn so bekämpfen.

Ich werde nicht denselben Fehler wieder machen.

Also faltet Michael ihre Nachricht wieder zusammen und steckt sie in den Koffer. Er wird sie ihr zeigen, ihre eigenen Worte, und dann das verlangen, was all die Jahre gefehlt hat: Ihre Wahrheit.

Denn eines weiß er: Auch er hat diese Worte nie sagen können. Weder Violet noch Amaury hat sie je von ihm gehört. Und wenn er die Gelegenheit dazu hätte, wenn die geringste Chance besteht, seinen Vater wiederzusehen, würde er sie aussprechen. Und vielleicht geht es Violet ganz genauso.

Ich liebe dich.

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now