Kapitel 8.2

33 8 42
                                    

„Wir haben alle Zeit der Welt", sagt Wes. „Überlege es dir gut. Ich werde es mir derweil in dem Häuschen hier gemütlich machen."

Seine schweren Schritte sind zu hören, sie ersterben hinter den Wänden der Hütte. Die Anspannung hat der Eindringling regelrecht mit sich gezogen. Michael lässt die Schultern fallen und massiert sich die pochenden Schläfen. Immerhin kann er aus diesem Ort eine gewisse Ruhe schöpfen, so sehr seine Gedanken auch in Aufruhr sind.

Er hat seine Antwort gefunden. Es würde rein gar nichts besser machen, in der Vergangenheit herumzuschnüffeln. Abgesehen davon, dass ein Teil von ihm sich nach wie vor weigert, das alles zu glauben.

Ein anderer will sich dieser abgedrehten Welt entziehen und sie vergessen. Vor diesem Wesen fliehen, das innerhalb weniger Stunden die Kontrolle über sein Leben an sich gerissen und ihm nun auch noch vorschreibt, was er zutun hat.

Als gebe es dafür nicht genug Leute in meinem Leben.

Dann ist da ein anderer, klitzekleiner Teil in ihm, der ihn davon abhält, Wes um die sofortige Rückkehr in seine Welt zu bitten. Er wittert die Gelegenheit, unendlich viele Möglichkeiten, die sein Verstand gar nicht zu greifen vermag. Einen Einblick in die Geschichte seiner Familie, wie ihn sonst niemand bietet.

Und ich kann jederzeit zurück, hat er gesagt.

Trotz alledem bleibt die Sorge. Sie wiegt genauso schwer wie der Reiz verborgenen Wissens, das stets hinter verschlossenen Lippen versiegelt war.

Michael sieht sich um. Obwohl er nicht viele Erinnerungen an diesen Ort besitzt, ist er ihm zu jeder Zeit ein Segen gewesen. Warum er aus seinem Leben verschwinden musste, ist ihm ein Rätsel, das niemand beantworten kann oder möchte. Bis auf Wes.

Hier muss etwas passiert sein, das alles verändert hat.

Es hat seine Geschichte, die seiner Familie beeinflusst. Er kennt ihren Ursprung nicht, die ersten Jahre seines Lebens sind wie ein löchriger Teppich, und jeglicher Versuch, sie zu flicken, schlug fehl.

Das erste Mal erkennt Michael, dass das die Wunden in seinem Herzen sind, die ohne eine Wahrheit niemals heilen werden. Und sollte er diese herausfinden, könnte sie ihn befreien und die Lücken seiner Erinnerungen füllen.

Vielleicht ist es leichter, mit dem Wissen zu leben, als sich davor zu fürchten. Vielleicht bin ich dann endlich frei.


Michael betritt die dunkle Stube und entdeckt die dürre Gestalt des Eindringlings auf einem der Ohrensessel im Wohnzimmer. Das Gesicht Richtung Kamin gewandt, starr und regungslos.

„Hast du eine Wahl getroffen?", fragt Wes, ohne aufzublicken.

Er unterdrückt den Impuls, ihn zum Aufstehen zu drängen. Dieser Platz ist nicht für ihn bestimmt. Der riesenhafte Mensch wirkt so deplatziert wie ein Schreckgespenst auf einer idyllischen Fotografie.

„Das habe ich." Michael schluckt und befeuchtet seine trockene Kehle. „Wirst du dein Wort halten?"

Wes sieht auf, sagt jedoch nichts.

„Du sagtest, ich kann zurückkehren, mit allen Erinnerungen, die du mir auf der Reise durch das Reich nehmen wirst. Also auch meiner Musik."

Dass ich zu meinem Ziel und mir selbst zurückfinde.

Wes entblößt ein weiteres Mal seine weißen Zähne, an die er sich einfach nicht gewöhnen kann.

„So ist es. Und noch etwas kann ich dir versichern: Das Reich und der Blick in seine Tiefen verändert den Menschen, seine Sicht auf die Dinge. Nur wie – das kann niemand vorhersehen."

Michael presst die Lippen zusammen und zweifelt ein letztes Mal an seiner Entscheidung. Das Wissen um seine Regung tut Wes' Vorfreude keinen Abbruch, sie scheint sie mehr zu befeuern.

„Ist das nicht aufregend?"

Er schluckt seinen Ärger über die Bemerkung hinunter.

Das ist kein Spiel.

Wes schwingt sich rasch aus dem Sessel, unwillkürlich weicht er einen Schritt zurück.

„Bist du bereit?", fragt er und klatscht in die Hände. „Wo soll es hingehen?"

Michael streicht sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. In Anbetracht der schier endlosen Auswahl an Erinnerungen braucht er ein Ziel für seine Suche, die zu weiteren Anhaltspunkten führt. „Dorthin, wo alles angefangen hat."

„Und wo liegt dieser Anfang?"

„Es ist nur eine Vermutung aber an dem Ort, den ich im Sinn habe, finden wir vielleicht mehr heraus. Er ist im Moment meine einzige Spur", gibt er zu. „Nur eines weiß ich ganz sicher: Es gibt einen Menschen, den ich wiedersehen muss. Und dort muss er aufzufinden sein."

Wes neigt zur Antwort das Haupt und grinst verschwörerisch. „Uns soll nichts im Wege stehen, sofern ihr miteinander verbunden seid. Du musst mir dieses Individuum und eine Erinnerung offenbaren, zu der ich dich führen kann."

Michael schmerzt der Gedanke, nicht mehr als ein schummriges Zimmer, sein geschätztes Alter und ein verschwommenes Gesicht an ihn weitergeben zu können. Deutlich erinnert er sich stattdessen an die Melodie, die sie zusammen gespielt haben. Er hält sich daran fest und ignoriert die einhergehende Scham, lässt sich von der Hoffnung leiten, nach all den Jahren endlich mehr zu erfahren. Über ihn zu lernen.

„Dafür kommt nur eine Erinnerung infrage." Die einzige, die von ihm geblieben ist.

Wes streckt ihm seine Hand entgegen. „Ergreife sie."

Michael erinnert sich an die dort lauernde Kälte und erschaudert bei der Vorstellung, sie ein weiteres Mal zu spüren. Dann trifft ihn sein hungriger, auffordernder Blick. Er muss es tun, es führt kein Weg daran vorbei. Also nimmt er all seinen Mut zusammen und folgt dem Ruf des Eindringlings.

Michael schreckt auf, als seine Befürchtung wahr wird. Unverzüglich erfasst ihn ein Schauer, seine Haut ist wie aus Eis. Er ist versucht, seine Hand zurückzuziehen, doch Wes' Griff ist eisern.

Der Pianist sieht zu ihm auf. Sein Gesicht erscheint genauso fest und unbeweglich wie sein Körper, und diese Wandlung erschwert es, seiner folgenden Frage zu lauschen.

„Ich bin hungrig, Michael. Was bekomme ich dafür?"

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now