Kapitel 20

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Michael kämpft sich trotz der bleiernen Schwäche in seinen Gliedern auf die Beine, ohne Wes aus den Augen zu verlieren. Ein verschmitztes Lächeln zieht sein Gesicht breit, mit derselben Überlegenheit, die ihn schon die ganze Zeit begleitet und ihm nun wieder schmerzlich bewusst wird.

Ich bin ihm nicht gewachsen.

Vor allem nicht in diesem Zustand.

„Was hast du vor?", fragt Wes.

Er macht das einzige, das ihm in dieser wirren Welt noch vertraut ist: Er läuft davon. Das scheint die einzig vernünftige Reaktion zu sein.

Michael muss weg. Weg von Wes, weg von diesem Ort.

Wes' Rufen dringt wie durch Watte an sein Ohr, er ignoriert seine Aufforderung, stehenzubleiben. Stattdessen eilt er mitten durch die Nachbarschaft, in der er aufgewachsen ist. Es fehlen die spielenden Kinder und rauschenden Autos auf den Straßen, sonst ist sie dieselbe. Doch sie ist still. So unnatürlich still. Er hört nur seine eigenen, vor Schwäche schlürfenden Schritte und den dröhnenden Puls in seinen Schläfen.

Michael dreht sich kein einziges Mal um, und als er sich weit weg genug glaubt, biegt er links ab in einen Hof. Völlig aus der Puste lehnt er sich mit dem Rücken an die Hauswand und gleitet daran auf den Boden hinab.

Jeder Atemzug geht rasselnd und flach durch seine enge Kehle. Gerade so viel Luft dringt durch sie hindurch, dass er nicht erstickt. Er atmet tief durch die Nase, gönnt seinen schlotternden Beinen eine Pause und bringt alle Mühe auf, Verstand und Herz zu beruhigen.

Ein- und wieder ausatmen.

Durch die Anstrengung kehrt einmal mehr die drückende Schwäche zurück und verwandelt seine Glieder in schwere Gewichte. Darum schließt Michael die Augen und entspannt sich einen Augenblick, versucht es zumindest, nicht an Wes, das Reich und alles andere zu denken.

An was habe ich früher immer gedacht?

Nach einigen Sekunden fällt es ihm wieder ein.

Richtig, die Hütte. An die Hütte im Frühling, die Wiesen und Wälder und ihre Musik.

In jeder Nacht, wenn er am Klavier in Melodien versank, dachte er daran. Aber nun erscheint er so weit weg, ein beliebiger Ort in einer Ansammlung von Erinnerungen, die alle nichts mehr zu bedeuten scheinen. Was würde ein anderer Michael denken, der nicht unter dem Einfluss einer zerrütteten Familie aufgewachsen ist?

Wes Frage flutet erneut seine Gedanken.

Wer bin ich?

Michael legt die schweißbedeckte Stirn auf den Knien ab und fokussiert den Asphalt unter sich, konzentriert sich auf jede Einzelheit. Und dann ist da noch etwas: sein Schatten. Er hat ihn in dem Trubel völlig vergessen. Sofort fällt ihm auf, dass dieser nicht mehr der zu sein scheint, der er einmal gewesen ist. Michael bemüht sich, um ihn überhaupt erkennen zu können, so hell ist der Fleck unter ihm. Seine Bewegungen sind kaum noch zu sehen, wie in Zeitlupe, so wirkt er beinahe traurig.

„Es tut mir leid", haucht er und versteht zugleich nicht, warum er sich entschuldigt. Vielleicht, weil sie miteinander verbunden sind. Das hat Wes einmal gesagt – seine Verbindung in die andere Welt.

Aber Wes sagt viel.

Als seine Finger den Schatten berührt, erzittert Michael bei der Berührung und dem absurden Gefühl, dass seine gesamte Fingerspitze in einem seltsamen, kalten Pudding versinkt. Abrupt ergreift ihn eine Schwermütigkeit und Trauer, die so viel tiefgreifender ist als seine, dass es ihn erschüttert.

Ein eigenes Bewusstsein ...

Michael zieht seine Hand zurück, als ein weiterer, weitaus dunklerer Schatten über ihm auftaucht und das sanfte Sonnenlicht stiehlt. Im Vergleich zu seinem ist er pechschwarz.

The Realm (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt