Kapitel 13

15 6 22
                                    

Meine liebe Elaine,

Ich hoffe, das Wetter ist bei dir fröhlicher, denn jetzt, während ich diesen Brief schreibe, ist es grau und regnerisch auf den Straßen. Also habe ich mich in ein gemütliches Café verkrochen – nicht annähernd so schön wie im trauten Heim, doch mit einem gewissen Charme, dem ich durchaus etwas abgewinnen kann.

Aber nun Wichtigeres: Wie geht es dir? Der letzte Brief war um einiges kürzer, als ich ihn mir erhofft habe, und ich würde so gern mehr wissen – erzähl mir alles. Ich gehe davon aus, dass du aufgrund der Umstände nicht wie sonst ausführlich berichten konntest, nicht etwa wegen Verschwiegenheit. Macht dir die Erkältung zu schaffen? Haben die Medikamente geholfen? Hoffentlich hat dieser Quacksalber dir endlich bessere verschrieben. Vielleicht sollten wir dir einen anderen suchen.

Amaury streicht den Satz durch. Von wir kann schließlich nicht die Rede sein. Denn er ist ja nicht da.

Vielleicht kannst du mère bitten, dir einen besseren Arzt zu suchen.

Jetzt zu mir ... Ich weiß ja, du willst alles wissen.

In einer Woche bin ich fertig. Endlich. Versteh mich nicht falsch, es war lehrreich und interessant, doch ich vermisse die Provence, père und mère. Dich. Mein Zuhause. Das wird es immer sein. Und dort will ich auch spielen. Ich habe mir das alles anders vorgestellt, vor allem das Reisen. Dass die Freiheit berauschend sein wird, neue Orte, interessante Menschen, andere Perspektiven ... Aber ich kann immer nur an euch denken.

Ich habe mich entschieden, Elaine. Direkt nach meinem Abschluss nehme ich den nächsten Flug und komme zurück.

Amaury kritzelt mit dem Kugelschreiber so fest über den letzten Absatz, dass das Papier beinahe einreißt. Er wird ihn noch einmal schreiben müssen, auf ein neues, reines Papier, wenn die Endfassung fertig ist.

Nochmal.

Die Kellnerin tritt zu ihm, er nickt und lächelt dankbar, während sie seine Tasse zum zweiten Mal mit schwarzem Kaffee füllt. Einen Augenblick lang sieht er ihr hinterher, lauscht dem Geklirr und Gemurmel im Hintergrund und widmet sich dann wieder seinem Brief, mit anderen Worten.

In einer Woche bin ich fertig. Ich kann kaum glauben, dass ich das schreibe, ich muss es sogar vor mir hersagen. Die Zeit verfliegt. Ich kann mich noch genau an den Abend vor meiner Abreise erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Und nun liegt er schon Monate zurück.

Mein Mentor sagt, ich sei talentiert und solle das Land erkunden, Erfahrungen sammeln. Es gebe ausgezeichnete Möglichkeiten hier. Wenn er recht hat, könnte ich reisen, wie wir es uns immer ausgemalt haben.

Aber das wollten wir zusammen machen, weißt du noch? Die Welt mit der Kamera festhalten ...

Wieder streicht er die letzten Sätze durch.

Ich bin aufgeregt. Vielleicht bleibe ich noch etwas länger und warte ab, welche Gelegenheiten sich ergeben.

Ich warte sehnlichst auf deinen nächsten Brief.

Dein Amaury

PS.: Anbei ein paar Bilder meiner Erkundungstour durch die Stadt, damit du siehst, wo ich lebe. Auch vom Café, in dem ich gerade sitze. Es würde dir gefallen.

Amaury faltet das Papier zusammen und steckt es in seine Tasche auf dem Boden. Beim Aufrichten streicht er sich entnervt das Haar hinters Ohr; es ist mittlerweile schulterlang und hängt ihn ständig in den Augen. Der verlockende Duft des Filterkaffees steigt ihm in die Nase, er hebt die Tasse und nippt daran.

Mehr und mehr Gäste betreten das Café, ihr Raunen wächst zu einem aufdringlichen Stimmengewirr heran. Amaury nimmt einen weiteren Schluck und kramt nach Kleingeld in seinen Hosentaschen.

Normalerweise genießt er den sanften Trubel im Hintergrund, schweift gedanklich ab und beobachtet andere Leute, Lachen, Weinen, ihre Gesten, fragt sich, was in ihrem Leben wohl vorgeht. In solchen Momenten stellt er sich vor, seine Eindrücke durch die Linse seiner Kamera aufzunehmen oder sie mit einem Lied auf dem Klavier zu begleiten. Aber nicht heute. Das Gegenteil ist der Fall: Der Lärm wühlt ihn auf, er ist zu keinem klaren Gedanken imstande.

Was soll ich nur tun?

Amaury ist hin- und hergerissen, zwischen den Wünschen seiner Vergangenheit und jenen, die er jetzt hat. Das Heimweh setzt ihm zu, das Stipendium ist nicht so vielversprechend und weissagend, wie er sich erhofft hat, und dann ist da Elaine. Die Angst, sie zu enttäuschen, sollte er ihr die Wahrheit sagen. Seine Albträume, die ihre lang ersehnte Begegnung nach seiner Reise in ein Schreckensszenario verwandeln.

Sie, ein leidender Schatten ihrer selbst und er, nicht mehr der Bruder, für den er sich gehalten hat. Unfähig, für sie da zu sein. Und wenn er es da nicht schafft, bekommt er in anderen Szenarien nicht einmal die Gelegenheit dazu, da ist es zu spät – Amaury kehrt zu ihrer Beerdigung zurück.

Seine Zunge brennt, der Kaffee ist zu heiß. Aber er trinkt ihn trotzdem. Gerade steht er auf und nimmt den letzten Schluck, da stolpert eine Frau über seine Tasche und verpasst Amaury einen Stoß. Die Flüssigkeit ergießt sich über sein Kinn und das Hemd. Sie unterdessen knallt auf den runden Tisch und hält sich rechtzeitig fest, um nicht zusammen mit ihm auf den Boden zu krachen. Bei dem schmerzhaft aussehenden Aufprall entfährt Amaury vor Entsetzen ein Fluch.

„Shit", donnert die Frau erbost und rappelt sich auf. Eine Bedienung ist auf dem Weg und hilft ihr dabei, Besteck und Geschirr vom Boden zu sammeln, wie durch ein Wunder ohne Scherben. Amaury steht perplex daneben, rührt sich erst, als die beiden schon fertig sind und tupft sich mit einer Serviette den Kaffee von der Brust.

Innerhalb weniger Minuten sieht alles aus wie zuvor. Die Frau entschuldigt sich bei der Kellnerin und sammelt die restlichen Geldstücke vom Boden auf. Dann wendet sie sich Amaury zu und streckt ihm diese mit einer Entschuldigung entgegen.

„Hast du dich verbrannt?", fragt sie.

„Alles in Ordnung, ich wollte sowieso gerade gehen."

„Dann lass mich wenigstens deinen Kaffee bezahlen."

Amaury will protestieren, da ist sie schon zur Theke verschwunden und bezahlt. Er wartet an Ort und Stelle, bis sie zurückkehrt.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen. Aber Danke."

Ihre unbewegte Miene zeigt unmissverständlich, dass sie anderer Meinung ist, also sagt er nichts weiter. Kurz mustert er sie. „Kennen wir uns irgendwoher?"

Die Frau bejaht das, ohne zu zögern. „Violet. Wir waren im gleichen Kurs. Piano."

Ein schöner Name.

Bei der Farbe blitzen Lavendelblüten in seinen Gedanken auf.

Sie schütteln sich die Hände, Amaury stellt sich ebenso vor und lächelt peinlich berührt.

„Jetzt erinnere ich mich. Tut mir leid, das ist nicht böse gemeint. Ich kann mir einfach keine Gesichter merken."

Vor allem nicht, wenn ich in Gedanken immer ganz woanders bin, schimpft er sich.

Violet winkt ab. „Und ich bin ein riesen Tollpatsch, wir haben alle unsere Macken. Mach' dir nichts draus." Nun bedenkt sie ihn eines aufmerksamen Blickes. „Was hast du da eben gesagt?"

Amaury überlegt kurz, ehe es ihm wieder einfällt, was sie meint. „Ach, du meinst Mince alors?", fragt er und deutet auf die Eingangstür. Gemeinsam durchqueren sie das Café und treten nach draußen auf die trubeligen Straßen.

„Genau. Was ist das, Französisch?"

Amaury nickt. „Das ist so ähnlich wie wenn ihr Fuck sagt. Aber mein Akzent hat mich sowieso schon verraten, nicht wahr?"

Violet lächelt. Er kann nicht sagen, worüber, ob sie recht hat oder die Art, wie er das englische Wort ausgesprochen hat – es spielt auch keine Rolle. Amaury beobachtet jede Bewegung darin, ihre Brauen sowie die Mundwinkel wandern sanft und belustigt nach oben. Es ist ansteckend.

„Mir gefällt's", sagt sie.

„Mir auch."

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now