Kapitel 19

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Violet schwindet, Datum und Tageszeit ändern sich, genauso wie sie selbst. Sanfte Falten zieren ihr Gesicht, die Kleidung ist modern. Und ein weitaus älterer Michael kommt aus seinem Zimmer – sie sehen genau gleich aus.

Die veränderte Violet eilt zu ihm, während er sich gezielt abwendet und zur Tür stürmt, im Schlepptau einen Koffer und sein Rucksack auf dem Rücken, das Taxi an der Straße ist das Ziel.

„Warte!" Ihre Verzweiflung spiegelt sich in der zitternden Stimme wieder.

Bitte nicht, denkt sie. Wieder und wieder. Bitte nicht.

Sie realisiert ihre offensichtliche Gemütsschwankung und bemüht sich um einen strengeren Ton. Doch, und das wissen sie beide, wird sie ihn damit nur mehr verlieren.

„Wo willst du hin?"

Verlässt du mich jetzt auch?

„Überall hin." Vor allem muss er weg von ihr, hat es satt, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Er will leben, mehr sein als der Pianist, den sie in ihm sieht. Michael lässt sich nicht aufhalten und hält erst inne, als sie ihn am Oberarm packt.

Keinen seiner Gedanken muss er aussprechen, denn Violet kann alles von seinem abweisenden Gesicht ablesen. Zögerlich lässt sie ihn los.

„Hier geht es um deinen Vater, oder?"

Wegen dir verlässt er mich.

„Hasst du mich?", fragt sie.

Er zögert, zuerst sprachlos von ihrer einfachen Schilderung der Dinge. Dem unsichtbaren Michael geht es nicht anders. Auf ein Neues durchlebt er, was damals in ihm vorging, hat keine Lust, mit einer sturen Frau wie ihr zu diskutieren.

„Nein", antwortet er knapp.

Violet glaubt ihm kein Wort. „Er war nicht gut zu uns, Michael. Er hat uns im Stich gelassen!"

„Das ist deine Version der Geschichte. Und selbst die kenne ich nicht wirklich. Aber was ist seine? Werde ich sie jemals erfahren, wenn es nach dir geht?"

Violet zögert einen Augenblick zu lange. Ehe sie etwas dagegen unternehmen kann, öffnet er die Tür und stürmt mitsamt Gepäck nach draußen. Michael und Wes folgen ihm. Er lädt es im Kofferraum ab und steigt ein.

„Ich habe das alles für dich getan", ruft sie und rennt hinterher. „Sieh, was aus dir geworden ist – du bist ein Pianist. Erfolgreich und talentiert."

Nichts, was sie sagt, kann seine Entscheidung mehr ändern. Hier trennen sich ihre Wege. Michael fährt davon, und seine Mutter sieht ihm nach.

Als er Violet betrachtet, wird etwas bewusst: Es gibt Flüche, die man sich selbst auferlegt. Unglück, dessen Maß wir selbst bestimmen.

Sie ist in ihrem gefangen, jeden Morgen aufs Neue, als stecke sie in einer Zeitschleife, ein neuer Tag, ein neuer Monat, ein neues Jahr – dieselben Muster, dieselben Gedanken. All die Jahre hat sie an nichts anderes gedacht als Amaury. Und Michael kann es ihr nicht mal verdenken, nach dem, was er nun weiß.

Augenblicklich gefriert das Bild, als habe jemand einen Schalter gedrückt. Vermutlich Wes.

Fast, als habe er auch ihn ausgeschaltet, ereilt Michael ein Schwächeanfall. Er fällt auf die Knie und rührt sich nicht mehr. Jegliche Anspannung in ihm löst sich auf.

„Jetzt ist alles vorbei", flüstert er und lässt kraftlos den Kopf hängen. „Wir sind am Ende angekommen."

Die Leere breitet sich in ihm aus, durchdringt jeden Muskel. Fast wie ein Fieber – nur dass seine Haut sich nicht heiß, sondern eiskalt anfühlt.

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now