Kapitel 6

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Das Gras fängt seine Füße wie kühle, feuchte Kissen auf. Michael weicht den Blumen aus, um sie nicht zu zertreten. Er nimmt sich Zeit und betrachtet das bunte Leben unter sich. Die Sonnenstrahlen sind genau richtig – mit der Stärke des nahenden Sommers, wenn sich Knospen darin öffnen und er die Augen schließt, um die letzte, kühle Brise des Frühlings auf der Haut zu spüren.

Es ist zu schön, um wahr zu sein.

Der Gedanke folgt ihm. Diese Version des Ortes ist zu perfekt, um die Realität abzubilden. Eine Stimme unterbricht den friedlichen Augenblick, taucht wie eine Antwort auf seine gedachte Vermutung auf. Trotz Michaels geübten Gehörs ist sie kaum verständlich, ein eigentümliches Rauschen begleitet sie.

Er versucht, ihr zu folgen, doch sie scheint von überall und nirgends zu kommen. Die gezielte Näherung wird zu einem Ratespiel. Er wandert kreuz und quer, was das Rauschen verändert, als drehe er an einem Radio herum, auf der Suche nach der richtigen Frequenz.

Michael beugt sich zu den zahlreichen Blumen hinunter, im Wirbel der Worte hört er eines ganz deutlich.

Hier, flüstert ein Gänseblümchen, bis sich alle zusammentun. Hier, hier, hier.

Die nächste Böe trägt die Nachricht zum nahegelegenen Waldrand. Das Rascheln der Baumkronen verwandelt sich in das Flüstern, wandert weiter und weiter, bis zum letztmöglichen Ort. Dort intensiviert es sich, die Stimme überlagert sich in unterschiedlichen Höhen und Tiefen.

So weiß Michael, dass das sein Ziel ist: die alte Holzhütte. Das dunkelbraune Holzgebilde auf der anderen Seite der Wiese.

Er tritt auf die Veranda, das Holz ächzt durch sein Gewicht. Unter seinen Kinderfüßen hat es das nie. Der kleine Michael hat das Haus riesengroß empfunden und ist darin hemmungslos herumgetobt. Jetzt fürchtet er, sich durch das tiefe Dach den Kopf zu stoßen. Ein Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln. Genau wie bei ihm.

Seine Fingerspitzen berühren die geflochtenen Stühle, sie wippen sanft hin und her. Mit ihrem Knarzen im Ohr wendet Michael sich der Tür zu. Dort liegt der Ursprung, sein Ziel.

Er berührt den unnatürlich kühlen Türgriff und drückt ihn hinunter. Das rostige Metall kreischt.

Sie ist nicht abgeschlossen.

Obwohl sie das immer war.

Bei der Vorstellung, jemand habe sich Zutritt verschafft und warte darin auf ihn, verkrampft sich sein Magen. Trotzdem muss er hinein.

Michael beißt die Zähne zusammen und stößt die Tür auf. Eine Lichtsäule erhellt den Raum und macht ihn als Schatten darin sichtbar. Er wirft einen zaghaften Blick hinein und taucht in eine Wand aus schwerem Holzgeruch ein, dem Geruch nach zuhause, muffig und feucht in der Nase. Durch die winzigen Fenster dringt kaum Licht. Vor Michaels Augen tanzen blitzende Punkte, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnen. Er blinzelt dagegen an und tritt ein – wandelt über die nächste Schwelle in seine Geschichte, eine weitere Schicht tiefer ins Vergangene.

Nichts hat sich verändert. Das Wohnzimmer mit zwei schwarzen Ledersesseln vor dem Kamin, Teppiche zieren den Dielenboden. Links an der Wand steht ein von unzähligen Schrammen gezeichnetes Klavier aus Nussbaum. Von hier sind die anschließende Küche sowie drei Türen zu sehen – zwei Schlaf- und ein Badezimmer. Das kleinere war seines.

Michael wagt sich nicht weiter hinein. Vergessen geglaubte Impressionen, und deutlicher jene, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben, offenbaren sich. Wie er sich die zahlreichen Linien und Muster des Bodens einprägt, eingehüllt vom rötlichen Licht des knackenden Kaminfeuers. Zigarettenrauch, der in seinen Augen brennt. Seine ersten Akkorde mit kurzen, ungeübten Fingern. Die zarte, tiefstimmige Begleitung seines Lehrers.

The Realm (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt