Kapitel 16

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An diesem Tag sind es diese drei Worte, die Violet Hoffnung schenken und ihre Zweifel bekämpfen. Michael sieht es so klar wie die ergreifende Szene vor sich. Und es mag an vielen weiteren Tagen funktioniert haben, da sie sich an diese Zuversicht klammerte.

Aber wie sich in ein paar Jahren herausstellt, ist ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Und obwohl sich nun ein eindeutigeres Bild der Umstände abzeichnet, fühlt es sich an, als verstehe er immer weniger.

„Wieso hat es nicht geklappt?", fragt er und wirft verzweifelt die Hände in die Luft, obwohl ihm klar ist, dass sie ihn weder sehen noch hören. „Ihr wolltet es versuchen. Es hätte funktionieren können, Nein, funktionieren müssen!"

Michael denkt an Amaury, dem seine innerliche Zerrissenheit deutlich zugesetzt hat. Trotzdem verlor er nie den Glauben an seine neue, kleine Familie, schmiedete Pläne, freut sich auf das Zusammentreffen von Violet und Elaine.

Und dann ist da seine Mutter, die zwar mit zurückhaltender Freude reagiert aber genug Hoffnung besaß, es zu versuchen, wenngleich die Angst in ihren Gedanken präsent war. Doch daran will Michael nicht denken. Sie hat ihn nicht gehasst, das reicht ihm erstmal.

Trotz allem bleibt eine schwerwiegende Frage.

Wieso ist ihr Plan nicht aufgegangen? Warum akzeptieren nur ein paar Jahre später, dass all das, was sie sich erhofft haben, zerstört wird?

„Sie hatten einen Plan", unterbricht Wes seine Überlegungen. „Doch du sagtest, dein Vater sei verschwunden. Was ist also schiefgelaufen?"

Michael schürzt die Lippen.

„Laut meiner Mutter hat er sich aus dem Staub gemacht."

Aber das kann er sich nach all dem, was er gesehen hat, nicht vorstellen.

Das ist zu einfach.

In Amaury muss mehr als das gesteckt haben, was Violet ihm zu verstehen gegeben hat. Mehr als ein Mann, der vor seiner Verantwortung davonlief. Ihre Erzählungen von ihm sind genauso unvollständig wie die von ihr selbst.

„Ich frage mich, was es war, das ihr Ende eingeläutet hat", grübelt Wes. „Es muss etwas gewesen sein, etwa ein Ereignis, dass das Fass zum überlaufen gebracht und all ihre Sorgen unerträglich gemacht hat."

Michael nickt zustimmend und irritiert zugleich über seine präzise Ausführung.

Das war der Punkt, an dem Violet sich von ihrer Hoffnung, ihren Gefühlen für Amaury und ihrem gemeinsamen Leben endgültig losgesagt hat. An dem es für sie kein Zurück mehr gab.

„Woran denkst du?", fragt Wes und mustert ihn aus seinen hellblauen, milchigen Augen. Seine schneidigen Züge betonen den neugierigen und zugleich berechnenden Blick.

Michael beachtet ihn nicht, völlig versunken in der Erkenntnis, dass es ein Erlebnis gibt, das mit seinen dunkelgrauen Rauchschwaden einen Schatten über seine Familie warf. Dieser sollte alles verändern. Und er selbst war Teil des Ganzen. Und dass er dabei war, erschüttert ihn am meisten.

Es muss einen Grund dafür geben, warum ich mich an nichts erinnere. Ich muss mich dem stellen, was passiert ist – was ich damals erlebt habe.

Nach einigen Momenten des Schweigens sagt er: „Du hast recht, Wes. So ein Ereignis muss es gegeben haben. Und wir müssen es uns ansehen, um alles zu verstehen."

Wes mustert ihn neugierig. „Und welches mag das sein, hast du eine Idee?"

Michael schluckt. Sogar eine ziemlich präzise. „Wir müssen zur Hütte zurück."

Er verdreht die Augen. „Schon wieder?"

„Es tut mir ja leid, wenn das für dich langweilig ist", antwortet Michael und kann eine gewissen Sarkasmus nicht verbergen. „Aber ich bin mir sicher, dass wir dort unsere Antworten bekommen."

The Realm (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt