Kapitel 3

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Michael kann keine Sekunde länger in dieser Wohnung bleiben. Nicht mit diesem unsichtbaren Monster, Geist oder was auch immer hier sein Unwesen treibt. Kopflos zieht er sich um, packt das nötigste zusammen und stürmt aus dem Haus. Irgendwohin, Hauptsache weg.

Doch so weit er auch davonläuft: Die Sorgen über Geschehenes verfolgen ihn bis in die entlegenste Ecke der Innenstadt. Selbst im Gedränge des Einkaufszentrums geht die Erinnerung an die Taubheit in seinen Fingern nicht verloren. 

Die Reizüberflutung verschlimmert seine Kopfschmerzen, bis ins Unerträgliche, weshalb er sich nach einiger Zeit einen friedlichen Platz zum Ausruhen sucht. Mit einem Kaffee sitzt er wie ein verlorenes Kind auf einer Bank und wärmt sich die Hände. Das Brötchen, das er sich dazu gekauft hat, bekommt er nicht runter.

Als der Becher leergetrunken ist, schaut Michael auf die Uhr.

Nur noch ein paar Stunden bis zum Vorspiel.

Die Vorstellung löst ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend aus.

Bei dem, was gerade passiert, soll ich auf die Bühne gehen? Was wenn ...

Michael führt den Gedanken lieber nicht zu Ende und macht sich auf den Weg zur Konzerthalle. Für gewöhnlich kreuzt er kurz vor Vorstellungsbeginn auf – so spät, dass Gray sich die Haare rauft aber so pünktlich, dass niemand sonst ihn vermisst. Gewissermaßen eine kleine Rebellion, um ihn daran zu erinnern, dass er nicht nach seiner Pfeife tanzt.

Heute macht er die einzige Ausnahme.

Also taucht er vor Gray und allen Gästen im Saal auf, um sich am Flügel warmzuspielen. Der wird sich im Gegensatz zu seinem Klavier nicht selbstständig machen.

Natürlich ist es nicht dasselbe. Nach einigen Minuten vermisst Michael die privaten Räumlichkeiten seiner Wohnung. Hier gibt es stets Zuhörer – zumindest glaubt er, hin und wieder jemanden durch die Gänge huschen zu sehen, und fühlt sich bereits durchlöchert von ihren Blicken. Andererseits ist es ein tröstlicher Gedanke, dem Personal mit ein paar Noten die Arbeit zu verschönern.

Michael übt das Stück dreimal, bis er in einem behaglichen Tran versinkt und in einfachere Stücke eintaucht. Er kämpft zunehmend damit, die Augen offen zu halten, der Grad zwischen Traum und Realität so fragil wie eine aufrechte Münze, die sich um die eigene Achse dreht. Und in dem Augenblick, in dem sie umfällt, erlischt der Zauber. Sein Spiel klingt dumpf, die Sicht verschwimmt und er schläft beinahe ein.

Dann fällt die Münze.

Schlagartig kehrt alles wieder, was Michael vor einer Sekunde noch verschwunden geglaubt hat. Blaue Muster, die kribbelnde Taubheit und ein unsäglicher Druck in jedem seiner Finger. Sie bewegen sich wie in Zeitlupe, obwohl er alle Kraft aufbringt, um die Kontrolle zu behalten. Stattdessen verbreitet es sich als rauschende Wucht. Sie schnürt ihm die Kehle zu. Weit entfernt hört Michael seine eigenen, erstickten Atemzüge.

Du musst atmen.

Je mehr seine innere Stimme drängt, desto verzweifelter ringt er nach Luft. Seine Hände verkrampfen sich auf den Tasten. Er beugt sich vornüber, presst die Augen zusammen und versucht auszubrechen.

Atme.

Er wünscht sich weit weg – an jenen Ort, der in Schönheit besticht und sein Leben in so viele Farben taucht.

Michael atmet tief durch die Nase ein und aus. Er nimmt sich Zeit, sein Puls rast weiter.

Darauf öffnet er die Augen. Arme und Hände hat er zu sich vor die Brust gezogen. Im Gegensatz zu seinen brennenden Wangen sind sie eiskalt und starr. Als er aufsteht, sind sie schwer wie Blei. Mit Anstrengung hebt er sie an, begutachtet sie. Trotz der Schmerzen ballt er seine Hände zu Fäusten, so fest, dass sich die Fingernägel in seine Handflächen graben und kleine Halbmonde zurücklassen.

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now