Kapitel 12

26 6 34
                                    

Michael inhaliert den Duft der Lavendelblüten. Er lernt ihn lieben, genau wie Amaury, wenngleich ihm eine Melancholie innewohnt, deren Ursprung er nicht deuten kann. Als sei dieser ihm längst vertraut und zugleich mit einer Schwere behaftet, die an Stelle des Geruchs die Jahre überdauert und sich in seiner Brust festgesetzt hat.

Schritt für Schritt entfernen sich die beiden, und er lässt sie ziehen, ohne den Wunsch, ihnen zu folgen, ihr Gespräch zu belauschen. Michael muss erst verarbeiten, was er erfahren hat und sich von den einnehmenden, greifbaren Gefühlen seines Vaters lösen.

Amaury.

So heißt er. Hier kommt er her.

„Und er hat eine Schwester", murmelt er, erstaunt über sich selbst, dass er noch keinen Gedanken an seine Verwandten väterlicherseits verschwendet hat.

Oder hatte.

„Obwohl sie krank war, ist er gegangen."

Sie wollte, dass er der Musik, seinem Traum zu reisen und zu fotografieren folgt. Sonst hätte er es sicher nicht getan.

„Er hat sie nie vergessen", stellt er an sich gewandt fest. „Was ist mit den beiden bloß geschehen? Ob sie noch lebt?"

Michael ruft sich das Foto von Elaine ins Gedächtnis, das sein Vater bei sich trug und die Art, wie er es ansah – nachdenklich, traurig. Doch das mag alles bedeuten. Das, was er gerade eben gesehen hat, lässt lediglich Mutmaßungen zu.

Der Pianist zuckt zusammen, als das eigentümliche Glucksen hinter ihm ertönt. Es klingt eine Spur kratziger, weswegen er sich automatisch umdreht.

„Was ist so witz-"

Der Rest bleibt Michael im Halse stecken.

Die Veränderung hat er sich definitiv nicht eingebildet. Schmale, bläuliche Ringe sind in seinen sonst durch und durch schwarzen Augen zu sehen. Sie umranden seine Pupillen, sodass es aussieht, als seien sie bis zum Rand vergrößert. Sein rotes Haar ist eine Spur matter, die Haarspitzen stehen nicht mehr ab, sondern lassen wie kraft- und leblose Blumen die Spitzen hängen.

„Was ist passiert?", fragt Michael und deutet mit dem Zeigefinger auf ihn.

„Oh, das ..." Wes fährt sich mit der Hand durch das zottelige Haar. „Nur eine kleine Nebenwirkung des Sprungs. Darüber musst du dir keine Gedanken machen, es geht mir gut."

Michael würde seine Reaktion nicht als Sorge um ihn bezeichnen, vor allen Dingen soll nichts schiefgehen. Aber er belässt es dabei.

Wes' Augen zucken versiert zu Boden. Instinktiv folgt er mit den seinen der Bewegung und erschaudert ein weiteres Mal: Sein zweiter, unauffälliger Begleiter hat sich ebenso verändert. Michael betrachtet seinen Schatten, er bildet einen dunklen, erdigen Fleck zu seinen Füßen und scheint nie stillzustehen, zittert und wellt sich. Es intensiviert sich unter seinem Blick, die ausladenden mutieren zu kleinen, hektischen Strömungen.

Aber er ist nicht mehr pechschwarz.

Er beugt sich zu ihm herab, was weder Form noch Farbe beeinflusst. Sonst kann er keine Veränderung feststellen, einzig die endlose Tiefe ist verschwunden.

„Und muss ich mir um den da Sorgen machen?"

Schließlich wandern sie gemeinsam durch die Welten.

„Ihm wird nichts geschehen." Wes wendet sich unvermittelt fasziniert dem Lavendel zu und inspiziert das Gewächs.

„Ein eigentümlicher Geruch."

„Das ist er", bestätigt Michael. „Bei mir zuhause gab es Lavendel nicht, und trotzdem ... riecht er auch nach Nostalgie."

„Was ist ... Nostalgie?"

Michael grübelt und berührt mit spitzen Fingern ein paar der Blüten. „Es ist so ein bisschen wie Heimweh. Man sehnt sich nach etwas Vergangenem. Manchmal ist es aber auch schwer zu deuten, nach was genau. Man vermisst etwas, wird vielleicht sogar traurig."

Wes linst zu ihm herab, ohne den Kopf zu drehen. „Vermisst du nun auch etwas?"

Michael runzelt die Stirn. Hätte er den Namen der Pflanze nicht in Amaurys Gedanken gehört, wäre dieser ihm nie eingefallen. Was also ist es, das sein Herz so schwer wiegen lässt? Was für eine Verbindung soll das sein, außer die indirekte zu seinem Vater?

„Ich weiß nicht. Aber das ist auch egal. Wir müssen dieser Spur folgen."

„Dann müssen wir weiter in der Zeit reisen. Und in dem Menschen."

Michael sieht zu ihm auf, wird sich der Umstände gewahr, unter denen er an sein Wissen gelangt. „Ich finde es immer noch falsch, in Gedanken anderer herumzuschnüffeln."

Gleichzeitig kann er es nicht abstreiten: Mit Wes' Kraft könnte das der Anfang einer vielversprechenden Suche sein. Und jetzt aufzugeben, würde jeden Fortschritt zunichtemachen.

„Ich muss wissen, was danach geschehen ist. Amaury wollte nicht gehen, doch wie wir wissen, hat er es getan. Vielleicht finden wir auf seinem weiteren Weg heraus, was passiert ist. Und wie er sich eingelebt hat. Kannst du mich dorthin bringen?"

Wes neigt das Haupt in seiner gepflegten, erhabenen Art. Das aufgeregte Zucken seines Schattens entgeht Michael nicht.

„Selbstverständlich", bestätigt er und fügt hinzu: „Eine präzisere Wahl wäre hilfreich. Schließlich haben wir eine riesige Sammlung an Momenten in seinem Leben, die etwas offenbaren könnten."

Bei meinem Wissensstand könnte das überall sein.

Wes mustert Michaels gerunzelte Stirn und reimt sich seine Unentschlossenheit zusammen.

„Es wäre auch möglich, seiner Gedankenspur zu folgen. Ein paar Tage, Wochen oder Monate später vielleicht. Da du kaum etwas über ihn weißt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, etwas Wissenswertes zu erfahren."

Nach reiflicher Überlegung bejaht er seinen Vorschlag. Ohne Zögern streckt der Eindringling die Hand aus, damit er einschlagen und die Entscheidung mit ihrem Handel besiegeln kann.

Ehe Michael sie ergreift, grübelt er, welche Erinnerung er opfern soll. Was es zuletzt auch war – sein Opfer muss eines gewesen sein, das er nicht bedauert hat. Oder ist es reine Einbildung, dass ihm ein wenig leichter zumute ist? Als sei ein Gewicht von seinen Schultern gefallen, das keines mehr war, weil er es ständig mit sich getragen hat.

Wo führt das hin? Was kann er damit noch erreichen?

Vielleicht ist es einen weiteren Versuch wert.

Michael gibt sich einen Ruck und reicht dem Eindringling seine Hand. Bei ihrer Berührung taucht er in die letzten Jahre seines Lebens ein, beschränkt sich jedoch nicht auf eine einzige Erinnerung. Er sammelt Fragmente, in seinem Leben verstreute Erfahrungen, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben. Seien es missbilligende Blicke jener, die er am Klavier übertraf oder ein richtender Finger, mit dem man auf ihn zeigte. Weil sich alle das Maul über eine alleinerziehende Mutter und ihren schweigsamen Sohn zerrissen. Die ein oder andere Faust im Gesicht eines Schlägers, weil er ihm im Weg stand, obwohl er sich schon an die Wand des breiten Gangs gequetscht hatte.

Sie alle formen ein Selbstbild, das sich über die Jahre in ihm gefestigt hat.

Das eines Schattens.

Ein Michael, der sich versucht vor der Welt zu verstecken und ein Dasein als Ungesehener bevorzugt.

Doch dann zerrte ihn die Mutter ins Licht zurück, auf die Bühne, in den Konzertsaal. Stellte ihn bloß als den Talentierten am Klavier, den Einzelgänger in der Schule und bleichgesichtigen Frackträger. Alle konnten ihn sehen und urteilen.

Und diese Schmach, nirgendwo hinzugehören, will ich vergessen.

The Realm (ONC 2024)Onde histórias criam vida. Descubra agora