Kapitel 11

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Die laue Sommerluft vermischt sich mit dem frischen, krautigen Geruch von Lavendel.

Er wird mich immer an sie erinnern. An diesen Ort.

Elaine ist vorausgelaufen. Ihre Silhouette ragt im orangenen Horizont auf, umschmeichelt vom Sonnenlicht. Eine sanfte Brise zupft an ihrem Haar und dem gemusterten Blumenkleid, das ihre zierliche Gestalt betont.

Er verinnerlicht jedes Detail der Szenerie. Den Schweiß auf seiner Haut nach ihrer gemeinsamen Wanderung, wie die Erde unter seinen Füßen knirscht und kleine Wolken den Himmel verzieren. Dann hebt er seine Kamera und fokussiert Elaine. Als er den Auslöser betätigen möchte, dreht sie sich um und ruft ihm etwas dazu. Daraufhin lacht sie, und er ergreift die Gelegenheit und drückt ab. Sie kehrt zu ihm zurück, er lässt den Apparat sinken.

„Amaury ... Du weißt, dass ich das nicht mag." Der Trotz ist lediglich in ihrer Stimme zu hören, denn sie grinst und bittet darum, ihr das Foto zu zeigen.

„Ich konnte nicht widerstehen. Es ist gut geworden."

Er streckt ihr den winzigen Bildschirm entgegen, und kurz darauf bestätigt sich seine Erwartung: Ihre Brauen schießen in die Höhe, die Augen weiten sich. Mit dem Ellbogen stupst sie ihn in die Seite und zwinkert.

„Wir wissen beide, dass das am Fotografen liegt. Es ist traumhaft geworden."

Amaury schmunzelt zur Antwort und steckt die Kamera in seine Umhängetasche. Sie hackt sich darauf bei ihm unter. So wandern sie den Pfad der schier unendlichen Lavendelfelder entlang. Elaines zarter, überraschend kühler Arm liegt an seinem. Da er einen Kopf größer ist, linst er unbemerkt auf sie herab und betrachtet ihre dünnen Hände, das herausstechende Schlüsselbein unterhalb des schmalen Halses und die auffällige Blässe. Jedes Mal wird ihm schwer ums Herz, und trotzdem kann er nicht damit aufhören. All das gewinnt seine Aufmerksamkeit, lenkt ihn von den schönen Momenten ab – wie ihrem letzten Abend zusammen.

Elaine lugt zu ihm auf, derselbe, grünbraune Blick aus kugelrunden Augen, den er von sich selbst kennt. Das ist die einzige äußerliche Gemeinsamkeit, die ihnen vererbt wurde. Man könnte meinen, sie stammen von unterschiedlichen Familien, so sehr unterscheiden sie sich in Aussehen, Statur und Auftreten. Früher wurden sie mit Sonne und Mond verglichen, und Amaury hat die Vorstellung gehasst, weil die beiden immer getrennt sind. Mittlerweile mag er den Gedanken, da es sie auf eine besondere Art verbindet.

Schließlich teilen sich Sonne und Mond denselben Himmel. Auf ewig.

„Was ist?", fragt Elaine.

„Nichts", antwortet er und wendet sich der Landschaft zu.

Sie mustert ihn noch einen Augenblick mit skeptisch verkniffenem Ausdruck, belässt es aber dabei und sagt: „Du musst ganz viele machen, wenn du fort bist."

„Was machen?"

„Fotos natürlich! Und dann zeigst du sie mir, wenn du nach Hause kommst."

Amaury schürzt die Lippen. Was, wenn du bis dahin nicht mehr da ist?

„Vielleicht sollte ich lieber hierbleiben, noch etwas arbeiten, Geld sparen."

Sie bleibt abrupt stehen und entzieht sich seiner Stütze.

„Das Stipendium ist eine einmalige Chance und ich werde nicht zulassen, dass du das wegwirfst."

Amaury hält ebenfalls an und dreht sich zu ihr um. „Ich meine ja nur ... Es schadet doch nicht, noch ein bisschen zu warten."

„Es sind doch nur ein paar Monate."

„Aber-"

„Nicht wegen mir."

Er seufzt und fragt sich, wie oft sie diese Diskussion schon geführt haben. Und nun überschattet sie die beiden erneut.

Ganz toll gemacht.

„Ich werfe es ja nicht weg", beteuert Amaury aber sie fegt seine Worte mit ihrem Kopfschütteln von sich.

„Ich weiß, du willst reisen und dass du wegen mir hier feststeckst."

„So ist es nicht. Ich-" Er streckt die Hand aus, doch als Elaine einen Schritt zurückweicht, lässt er sie mit einem schmerzhaften Stich in der Brust sinken.

„Doch, genau so ist es! Ich sehe dir an, wie sehr du zweifelst. Es ist genau wie bei allen anderen, sie trauen sich in meiner Gegenwart ja nicht mal, über etwas anderes als mich zu reden. Unbeschwert zu sein, zu lachen, einfach weiterzuleben!"

„Elaine ..."

Sie senkt den Blick, versucht vergeblich, ein Schluchzen zu unterdrücken. Amaury lässt ihr die Zeit und Distanz, sich zu beruhigen.

„Ich ertrage das nicht mehr", sagt sie nach einigen Sekunden des Schweigens. Zorn blitzt in ihren Augen.

„Ich verstehe dich ja." Amaury ballt die Fäuste – traurig darüber, was sie durchmacht und frustriert, weil er nichts daran ändern kann. Umso schwerer kommen ihm folgende Worte über die Lippen. „Aber bitte versuche, sie zu verstehen. Ich weiß, das ist schwer, aber das ist es für uns alle. Sie wissen es einfach nicht besser und versuchen genauso wie ich, mit deinem ... mit der Situation zurechtzukommen."

Elaine sieht auf. Sie ringt mit sich, bis ihre Züge schließlich an Härte verlieren, und da weiß Amaury, dass er sie in seine Arme schließen darf. Er findet keine Worte, denn für manches gibt es sie schlicht nicht. Also zeigt er sie ihr. Und sie erwidert seine Geste, bis der Puls sinkt und sie sich beruhigt hat.

Dafür gibt es Musik, sagt er sich und nimmt sich vor, ihr vor seiner Abreise ein letztes Stück vorzutragen.

Amaury bemerkt jetzt, da auch er sich entspannt, wie aufgewühlt er war. So schafft er es, das zu sagen, was sie sich wünscht und die Harmonie zurückbringt.

„Lass uns nicht streiten. Das ist unser letzter Tag zusammen, so will ich ihn nicht verbringen."

Nach einigen Sekunden des Schweigens löst sich Elaine von ihm und bringt ein zaghaftes Lächeln zustande. „Du hast recht. Lass uns die Zeit genießen, die wir noch haben."

Ihre Stimme hallt durch seine Gedanken. Er hört den Abschied darin, für den er nie vorbereitet sein wird. Morgen muss er zum Flughafen, dann die nächsten Monate ohne sie verbringen. Niemand kann ihm garantieren, dass es danach nicht zu spät sein wird.

Ich will nicht gehen.

Amaury versteht ihren Wunsch, ihn fortgehen zu sehen. Dennoch ist sein Unwille das einzige, an das er denken kann, während sie den Heimweg antreten.

Wie soll ich sie verlassen? Ohne zu wissen, ob sie bis zu unserem Wiedersehen überlebt?

„Wenn du weg bist, wird das Klavier verstauben", sagt Elaine und zieht eine Grimasse. Sie vertreibt diese mit einem Schmunzeln und offenbart das vorherrschende Gefühlschaos in ihrem Herzen, das Amaurys eigenes Durcheinander widerspiegelt.

„Wenn du zurückkommst, musst du mir die neuen Stücke vorspielen, die du gelernt hast. Ich will sie alle hören."

Genau wie früher.

Amaury räuspert sich, um eine klare Stimme bemüht.

„Wie wäre es, wenn du es selbst lernst? Dann könnten wir gemeinsam spielen. Ist doch langweilig, wenn ich den ganzen Spaß allein habe."

Ein weiteres Mal hält er ihr den Arm hin. Elaine ergreift diesen und grinst breit.

„Versprochen."

The Realm (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt