Kapitel 14

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Michael folgt ihnen die Straße entlang, belauscht ihr Gespräch, das von einer Natürlichkeit geprägt ist, die er bei sich selbst nur am Klavier wahrnimmt. Sein Vater kann endlich vergessen – die beklemmenden Gedanken an seine Schwester, seine Sehnsucht nach zuhause und die schwerwiegende Furcht vor einer Entscheidung. Violet gönnt ihm eine Pause, von der Amaury nicht einmal gewusst hat, dass er sie braucht.

Michael hätte sie fast nicht wiedererkannt. Durch die große, runde Brille und die wirr abstehenden Strähnen ihres lockeren Dutts wirkt Violet - seine Mutter - wie ein völlig anderer Mensch.

Er muss ihnen nicht durch das Straßengewirr folgen, um herauszufinden, dass sie mehr Zeit miteinander verbringen, sich ineinander verlieben werden.

Amaury hat die Fremde zugesetzt, und er hat sich genau danach gesehnt – Verbundenheit, Liebe.

„Er hat sich Hals über Kopf in sie verliebt", kommentiert Michael, noch immer ungläubig, dass diese Frau in blassen Jeans und lockerer, gemusterter Bluse seine Mutter ist. Bei dem Anblick ihrer strahlenden, unbedarften Gesichter lächelt er in sich hinein.

„Hals über Kopf", wiederholt Wes hinter ihm.

Erst jetzt, da die absorbierende Wirkung seiner Eltern mit ihnen um die nächste Abzweigung verschwunden ist, achtet Michael auf die Straßen. Sie erscheinen vertraut. Hier und da fehlt vielleicht ein Laden, diese Buchhandlung hat einen neuen Anstrich und das Café stammt von vor seiner Zeit.

„In diese Stadt bin ich gezogen", schlussfolgert er, ohne sich zu Wes umzublicken, eingenommen von seiner Erkenntnis. „Also sind sie von hier in das Kaff gezogen, in dem ich aufgewachsen bin."

Ihm gefällt die Vorstellung, dass er und diese Stadt zumindest indirekt miteinander verbunden sind. Als habe er eine Geschichte, die über die Grenzen des Nestes reicht, in dem er großgeworden ist. Und durch seinen Vater erstreckt sich diese sogar bis ins Ausland.

Meine Familie ist größer, als ich erwartet habe.

Michael erreicht den nächsten Kiosk am Ende der Straße und begutachtet das Datum. Seine Stimme ist lediglich ein Flüstern.

„29 Jahre." Allmählich begreift er, was das bedeutet, starrt unentwegt auf die winzig aufgedruckten Zahlen. „Wir sind 29 Jahre in der Vergangenheit!"

Er muss nicht nachrechnen, um den einzig möglichen Schluss daraus zu ziehen: Ihr Verhältnis gewann genauso rasant an Leidenschaft, wie es ernst wurde.

„Was sagt uns das?", fragt Wes, sichtlich ungerührt von seiner Aufregung.

„Ich bin 28", erklärt Michael. „Ich wurde schon im nächsten Jahr geboren."

„Da haben die beiden wohl nichts anbrennen lassen."

Wes' erhobene Stimme betont seine Belustigung. Das lässt Michael sich umdrehen und abrupt innehalten. Wieder ist eine Veränderung im Gange. Sie ist dezent und doch vorhanden: Sein Haar hat eine schlammige Farbe zwischen Braun und Rot angenommen, durchzogen von dunklen Strähnen. Die blauen Ringe in seinen Augen sind breiter, die Pupillen dagegen wesentlich geschrumpft.

In seinem Angesicht schwindet Michaels Euphorie. Sie verwandelt sich in eine bleierne Niedergeschlagenheit und erinnert ihn an die unschönen Umstände und Gründe, weswegen er hier steht.

„Das ist nicht witzig", meckert er und ringt um Fassung. „Was in meiner Mutter vorging, wissen wir nicht, doch zumindest Amaury war sicher nicht bereit für ein Kind. Er wollte zurück. Er wusste ja nicht einmal, wie seine Zukunft aussehen soll. Nicht gerade der beste Zeitpunkt, um eine Familie zu gründen. Aber nach alldem, was wir erfahren haben ..." Michael schluckt. „Violet muss bald schwanger geworden sein. Was, wenn ich ein ungewolltes Kind war?"

The Realm (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt