Kapitel 9.2

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„Ein kleines Mitbringsel aus deiner Welt", seufzt Wes und macht eine wegwerfende Handbewegung. Sein herabwürdigender Blick entfesselt weitere turbulente Wellen.

„A-aber eben ist er doch ..."

... nur ein Schatten gewesen, will er sagen. Doch dann fällt ihm auf, in was für einer Welt er gelandet ist. Es sollte ihn nicht überraschen. Und so, wie der Klecks sich windet, wirkt er nahezu ängstlich.

Ein Schatten, der sich im Licht quält.

„Er scheint ... irgendwie zu leben."

Oder bin ich vollkommen verrückt geworden?

„Er wird dir nichts tun."

Michael testet das aus, bewegt sich zur Seite und nach vorne. Abgesehen von den abnormalen Wellen und Zuckungen folgt sein Schatten, wie man es von ihm erwartet. Und als sich er darauf von der Wand löst, scheinen auch seine hektischen Bewegungen abzuklingen.

„Ist er ... mit mir verbunden?"

„Ja", antwortet Wes knapp. Da Michael ihn anstiert, lässt er sich zu einer Erläuterung herab. „Stelle ihn dir als eine Art Seil vor, das dich mit deiner Welt verknüpft. Bis zu deiner Rückkehr hält er deine Verbindung zu ihr aufrecht."

„Das heißt ... Er ist ein Wesen des Reichs, so wie du."

„Ja, nur nicht mit denselben Fähigkeiten."

„Also wird er uns begleiten."

„Er klebt an deinen Füßen, also hat er wohl keine andere Wahl." Wes schüttelt abschätzig den Kopf. „Du brauchst dich nicht zu sorgen. Es wird nicht lange dauern, da bemerkst du ihn nicht einmal mehr."

Michael legt die Stirn in Falten. „Dann geht es wohl nicht anders", sagt er an seinen Schatten gewandt und betrachtet ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier.

Immerhin scheint er nicht gefährlich zu sein.

Aber mehr als ein Spiel von Licht und Dunkelheit. Das reicht, um ihn nicht aus den Augen zu lassen.

Ein Klacken, ihre Köpfe zucken zur Tür.

Da ist jemand.

Dieser jemand stößt die Tür mit der Schulter auf und lässt sie hinter sich ins Schloss fallen. Seine Arme sind schwer bepackt mit einigen Holzscheiten.

Michael steht da wie vom Donner gerührt und folgt stumm seinen Bewegungen. Der Mann stapft in den Raum, ohne seine Besucher zu beachten. Er legt das Brennmaterial neben dem Kamin ab, hängt Mantel und Handschuhe über den Sessel und stellt sich mit ausgestreckten Händen ans Feuer.

Das dunkelbraune Haar haben sie gemeinsam, seines ist kürzer, seidig, eine Strähne fällt ihm in die Stirn. Ähnlich schmale Lippen über einem spitzen Kinn bilden die Mundpartie. Michaels Blick wandert weiter, bleibt an seinen Augen hängen. Grün, rund und glasklar – das genaue Gegenteil von seinen. Sie schimmern im Licht der Flammen, so offen und aufmerksam. Und doch scheinen sie verloren in seiner eigenen Gedankenwelt.

Ob sie tatsächlich das Fenster zu Seele sind?

„Er kann uns weder sehen noch hören", erklärt Wes etwas spät.

Michael ignoriert ihn, vertieft in des Mannes präzise Bewegungen, seiner Selbstsicherheit, als sei keine einzige davon verschwendet. Er kann sich seine Faszination dafür nicht erklären, vielleicht betrachtet er ihn auch bloß mit denselben Kinderaugen von damals.

Wes lugt zwischen ihnen hin und her. „Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten."

Michael nimmt einen kraftlosen, zittrigen Atemzug. „Meinst du?"

Und trotzdem wird er das Gefühl nicht los, dass sie sich grundlegend unterscheiden.

Es spielt keine Rolle.

Sie sind wieder vereint, wenngleich nur er etwas davon weiß. Michael genügt es. Das ist das einzige, was zählt.

Er will gerade einen Schritt auf ihn zugehen, da platzt wie aus dem Nichts ein Kind herein. Es rennt auf seinen Vater zu, der sofort aus seiner Trance erwacht und ihn mit einem herzlichen Lächeln empfängt.

Die beiden sprechen und witzeln miteinander, und Michael fällt zum ersten Mal der Akzent des Mannes auf. Französisch, tippt er. Und es gefällt ihm, wie anders er dadurch im Laufe des Gesprächs seinen Namen ausspricht.

Michael, hallt es in seinen Gedanken wieder. Ungewohnt, liebevoll. Genauso wie sein Lachen.

Es sollte ihn trösten – die Erkenntnis, dass sie in der Vergangenheit solch eine innige Verbindung geteilt haben. Doch sie kommt ihm so fremd vor wie das hemmungslose, unbeschwerte Gekicher des kleinen Jungen. Es bohrt in seinen Wunden herum, bis Blut aus ihnen herausquillt und Michael muss sich bewusst aufs Atmen fokussieren, wie er es sich angewöhnt hat.

So habe ich einmal geklungen?

Obwohl es sich direkt vor seinen Augen abspielt, fällt es ihm schwer, das zu glauben. Dieser Junge ist ein anderes Ich, das nichts von dem ahnt, was kommen wird.

„Rührend", bemerkt Wes, ohne dass sich jegliches Gefühl in seiner Stimme bemerkbar macht. „Ich bin neugierig: Warum hast du dir diesen Zeitpunkt ausgesucht?"

Die beiden beobachten, wie der heranwachsende Michael auf den rechteckigen Hocker am Klavier steigt, sein Vater schüttelt belustigt den Kopf und setzt sich neben ihn. Sie klimpern zusammen darauf herum, ungestimmte, willkürliche Töne, bis Vivaldi ihr Gespräch begleitet. Es ist, als seien sie Teil einer Filmszene, ohne jeglichen Einfluss auf die Akteure.

„Ich wollte ihn widersehen."

Michael lauscht der Musik seines Vaters, die Töne erklingen sanft und gemächlich. Schritt für Schritt spielen sie gemeinsam eine vereinfachte Version der Melodie, von einer Note zur nächsten.

„Dann ist das letzte Mal wohl etwas länger her."

Viel, viel zu lange.

Wie konnte es so weit kommen? Was musste geschehen, dass ihm ein löchriger Fetzen dieser sorglosen Zeit geblieben ist?

Bis jetzt wusste ich ja nicht einmal, wie er aussieht. Oder aussah.

Michael sperrt den Gedanken sofort in den finsteren Abgrund seines Verstandes zurück, aus dem er gekommen ist. Noch gibt es Hoffnung, dass er irgendwo sein Leben lebt – wenn auch ohne seinen Sohn.

„Eine Gemeinsamkeit scheint ihr jedenfalls zu haben. Ihr seid beide ganz besessen davon", unterbricht Wes seinen Gedanken und deutet auf den Jungen, der nicht aufhören kann zu strampeln und seinem Vater mit Argusaugen auf die Hände stiert. Michael erinnert sich an die magische Wirkung, die seine flinken Finger auf ihn ausgeübt haben.

„Ja, das ... verbindet uns", bringt der Pianist nach einer langen Pause hervor.

Allmählich begreift er die Bedeutungen hinter Wes Erläuterungen, werden mehr als ein abstraktes Konzept dieser fremden Welt, weil sie ihn auf eine Weise bewegen, wie er es nicht erwartet hat. Nicht nur ist sein Vater musikalisch talentiert, das Klavier hat ihre Beziehung von Anfang an geprägt.

Eine weitere Gemeinsamkeit, denkt er und ein Lächeln zuckt um seine Mundwinkel.

„Ich muss es einfach wissen. Wer er war, wie er gelebt hat, was er wohl gedacht hat. Über mich, über meine Mutter, diesen Ort. Warum er ..." Die Liste scheint endlos. Als Vivaldis Frühling zu Ende ist, stoppt er ebenfalls und scheitert daran, den Gedanken auszusprechen.

Warum er verschwunden ist.

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now