Prolog

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Der Griesgram vom Zimmer gegenüber ist tot, und das überrascht niemanden. Schließlich ist es allgemein bekannt, dass manche das Leben in einer Zeitschleife schlicht nicht vertragen.

So nennt Anne es gern, denn obwohl viele der Meinung sind, dass Routine die Knochen rosten lässt, gefällt ihr die träge Einheitlichkeit ihres Lebens.

Und wenn nicht, hat sie eine Zuflucht: Das Fenster in Annes Zimmer ist ihre Aussicht auf die Vergangenheit. Ihr ganzes Leben spiegelt sich in den belebten Straßen der Stadt wieder. Dort ist sie aufgewachsen, hat gelebt, geliebt, geweint. Sie pulsiert weiter, während die Zeit in ihrem Zimmer stehen bleibt.

An diesem Abend jedoch bittet sie ihre Pflegerin, die Vorhänge zuzuziehen. Nicht zum ersten Mal flutet das aufdringliche Licht die Räume des Altenheims.

„Da schlafe ich immer ganz schlecht", brummt sie und gibt sich alle Mühe, mit ihren zitternden Fingern den richtigen Knopf auf der Fernbedienung zu erwischen.

„Sind Sie denn überhaupt nicht neugierig, was es damit auf sich hat?" Die Frau nimmt ihr das Gerät aus der Hand und stellt das übliche Programm ein. Anne lässt sich unterdessen dankbar im Sessel nieder.

„Mir wäre es lieber, es verschwindet dorthin, wo es hergekommen ist", schnaubt sie. „Das kann doch nichts natürliches sein. Ah, die Nachrichten fangen an."

Die Pflegerin nickt und überlasst Anne dem Fernseher.

Nach dem Intro erscheint eine Nachrichtensprecherin im schwarzen Blazer und lächelt in die Kamera.

„Seit mehreren Wochen macht ein einzigartiges Phänomen die ganze Welt verrückt. Das Tor, unter diesem Namen ist es mittlerweile bekannt, taucht an scheinbar unwillkürlichen Orten auf und sorgt für Aufsehen."

Anne verdreht die Augen – seit Tagen ist von nichts anderem mehr die Rede.

„Die Theorien, was es damit auf sich hat, sind genauso zahlreich wie die Aufnahmen, die jeden Tag im Netz verbreitet werden. Wir waren im Herzen der Stadt unterwegs und haben die Leute zu ihren Meinungen befragt."

Aufnahmen der Innenstadt folgen. Das erste Interview zeigt einen Spaziergänger mit seinem angeleinten Mischling. Bei Erwähnung des Phänomens verzieht er grimmig den Mund.

„Mein Hund spielt völlig verrückt, sobald er es bemerkt. Der kläfft und kläfft und kriegt sich gar nicht mehr ein."

Am Eingang des Einkaufszentrums spricht der Sender eine Gruppe Jugendlicher an. Prompt zieht einer der Jungen sein Smartphone aus der Tasche und präsentiert eigene Aufnahmen, auf dem das grelle Licht zu sehen ist.

„Ganz sicher Aliens. Dauert bestimmte nicht mehr lange, bis sie uns unterwandern", witzelt er.

Seine Freunde lachen. Einer fügt dann ernster hinzu: „Neugierig bin ich schon, was das da oben sein soll. Wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, es herauszufinden ... Ich würde es tun."

Anne hebt die Augenbrauen. Scheinbar nehmen es nicht alle so ernst wie einige ihrer Mitbewohner. Jene, die auf der Schwelle zum Ende hin wandern, hoffen auf den Himmel oder eine Art Paradies – eine Erlösung vom anstrengenden Alter.

Passend hierzu äußert sich ein Herr mit zuckendem Schnurrbart: „Glaubt ihr an Gott, werdet ihr es dorthin schaffen."

Wenig später staunt sie über eine junge Frau mit kugelrunden Augen, die ihr vor Angst fast aus dem Gesicht kullern. Sie fragt sich, wie alle so ruhig bleiben können.

„Es verschwinden Leute! Keiner kann sich erklären, wieso, und es werden mehr. Man muss etwas unternehmen!" Das Zittern in ihrer Stimme ist kaum zu überhören. Anne fragt sich, ob sie jemanden an das Tor verloren hat.

Die Interviewerin nickt verständnisvoll, dann folgt der Schnitt zum nächsten Passanten. Doch der zuckt nur mit den Schultern und betont, dass es ihm vollkommen egal sei, was gleichermaßen schockierend ist.

Die vertraute Stimme der Nachrichtensprecherin ertönt, sie kehren ins Studio zurück.

„Die Meinungen gehen weit auseinander. Genauso uneinig sind sich Forscher aus aller Welt, die sich der Entschlüsselung des Rätsels angenommen haben."

Sie stellt die renommiertesten Wissenschaftler vor, doch bevor einer von ihnen zu Wort kommen kann, nimmt Anne die Fernbedienung und schaltet den Fernseher ab. Das ist wie bei Ärzten, denkt sie, die über den Symptomen ihrer Patienten brüten, nur um dann doch ein paar Pillen zu verschreiben. Ihre Worte bleiben, was sie sind: Vermutungen, Hypothesen. Und daran wird kein Doktortitel etwas ändern.

Annes Knie knacken geräuschvoll, als sie mühsam aufsteht und zum Fenster schlurft. Ein wenig mulmig zumute schiebt sie den Vorhang zur Seite und blinzelt gegen das grelle Licht an. Der wolkenfreie Himmel bietet ihr eine ungehinderte Sicht auf das Tor. Was ist es, das alle daran so fasziniert?

Sie lässt ihren Blick schweifen. Die bläulich beleuchteten Häuser werfen pechschwarze Schatten, wandelnde Silhouetten verschwinden darin, tauchen wieder auf. Anne beobachtet das hypnotisierende Spiel, schweift gedanklich in lange vergangene Welten ab, erinnert sich, glaubt, Menschen zu erkennen, die verloren sind.

Instinktiv kehren ihre Augen zum Licht zurück, wieder und wieder. Je öfter sie sich abwendet, desto schwieriger ist es zu widerstehen. Es ist ein unbeschreiblicher Drang, den keine Worte treffen – ein Bedürfnis, von dem sie zuvor nichts geahnt hat. Es mag wie das Licht der Sonne sein, wenn sie kühle Strahlen hätte, und sie treffen nicht die Haut, sondern ihr Herz. Trotz alledem ergreift sie eine Nostalgie, die sie an vergangene Spätsommertage erinnert. Diese reckt sich nach ihr und...

Sie ist eiskalt.

Anne stockt der Atem. Eine sanfte Berührung an der Schulter lässt sie zusammenzucken und in den Augenblick zurückkehren. Sie blinzelt, um die starren Augen zu beleben und wischt sich eine Träne von der eingefallenen Wange. Mit mehr Fassung dreht sie sich um und erfasst den prüfenden Ausdruck der Pflegerin.

„Der Fernseher ist ja aus. Ist alles in Ordnung?"

Anne will etwas erwidern, bis eine bedrückende Leere ihre Antwort verschluckt. Was denn nur für eine Antwort?

„Äh, ja, natürlich", stammelt sie und kehrt zu ihrem Sessel zurück. „Die Nachrichten will ich nicht verpassen."

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now