Kapitel 7

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Schlange.

Dieses Tier kommt Michael in den Sinn, als ihn die pechschwarzen Knopfaugen des Eindringlings taxieren. Eine spitze Nase ziert sein schneidiges, mit verwegenem Ausdruck geschmücktes Gesicht. Umso weniger will es zum schiefsitzenden Anzug passen, der an allen Enden zu kurz und an den dürren Gliedern zwei Nummern zu groß ausfällt. Das zerzauste, rötlich schimmernde Haar bildet einen Kontrast zur leichenblassen Haut.

Eine Gestalt voller Widersprüche.

Der Eindringling, Wes heißt er, beugt sich nach vorne, sodass sein Kopf auf gleicher Höhe mit seinem ist.

„Danke ... Michael."

Jede Silbe scheint ihm auf der Zunge zu zergehen. Dass er sich dabei auch noch die Lippen leckt, lässt Michaels Atem stocken. Nach wie vor sind die sich überlagernden Frequenzen zu hören. Wie beim vergangenen Echo fehlt die Klarheit in seiner Stimme, nur erklingt sie aus dem Mund dieses Wesens.

Obwohl unzählige Fragen durch seinen Kopf wirbeln, hat er bereits mit einer einzigen zu kämpfen.

„W-wofür?"

Wo ... für?" Seiner Kehle entfährt ein Glucksen. Michael zuckt bei dem schauerlichen Geräusch zusammen, es klingt rau und heiser, die hohen und tiefen Töne geraten durcheinander.

Das ist kein Mensch.

Denn Menschen kann man lesen. Nicht nur durch ihre Stimme – sie verraten sich durch ihre Mimik, Gesten und Worte. Bei ihm erscheint alles so entstellt und unnatürlich, dass es kaum zu deuten oder der Anblick gar zu ertragen ist.

Michael zwingt seine Aufmerksamkeit auf die nun stockende Antwort.

„Für deine ... Gaben."

Wes richtet sich wieder auf und vergrößert ihren Abstand zueinander, sodass Michael sein Gegenüber zur Gänze betrachten kann. Der Knoten in seiner Brust lockert sich, er atmet bedächtig auf.

„Du meinst diesen Körper?"

Diesen entstellten, widerwärtigen Körper.

Der Eindringling sieht an sich herab, was er lediglich an seinem gesenkten Kinn erkennt. Denn seine Augen verraten keine Blickrichtung.

Mehr. Eine Existenz: Gestalt. Ausdruck. Eine Stimme."

Seine Meinung dazu liest Wes ohne Probleme von Michaels Gesicht ab.

„Gut, ich habe sie etwas ... verzerrt." Er nimmt sich Zeit für jedes Wort, experimentiert mit verschiedenen Stimmlagen, um sich auf eine einzige festzulegen. Vereinzelt entziehen sie sich dennoch seiner Kontrolle. „Ich muss diese Hülle ... noch zu meiner machen. Das braucht Zeit."

Michael schluckt hart. Nicht nur seine Musik hat er sich einverleibt, sondern auch die Identität eines anderen, sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt – und dies mit seiner Erlaubnis. Dass dieser Wes sich für seinen Dienst bedankt, lässt Übelkeit in ihm aufsteigen.

„Ich hatte keine andere Wahl", bringt er hervor und wendet den Blick ab.

„Die hattest du ... Genau eine."

Der Spott in seinen Worten ist wie ein Schlag ins Gesicht. Sie wissen beide, dass er Michaels Option, Nein zu sagen, mit seinem Diebstahl zunichtegemacht hat.

Jetzt verstehe ich es.

Seine Augen weiten sich vor Entsetzen. Wes mustert ihn unbekümmert, was seine Vermutung bestätigt: Alles hat er geplant, schon die ganze Zeit. Ihn hierherzulocken, zu diesen Entscheidungen zu zwingen und etwas weitaus Verheerenderes zu opfern. Etwas von sich selbst, von dem er nicht einmal wusste, dass er es opfern kann.

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now