23 | IVETE

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Die Kälte, die in der Trainingshalle herrscht, steht im krassen Gegensatz zu der Hitze, die in mir brodelt. Eine Hitze, die nicht nur daher rührt, dass ich mich gerade körperlich verausgabe. Mein Atem geht schwer, mein Puls rast. Mein blaues T-Shirt klebt mittlerweile auf der Haut und hat eine deutlich dunklere Farbe angenommen. Meine Haare habe ich zwar zurückgebunden, aber einige Strähnen haben sich gelöst und stören mich schon die ganze Zeit. Aber ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern.

Mir gegenüber auf der Matte steht mein Trainer Liam. Eine eher unscheinbare Gestalt, nicht viel größer als ich, schmale Schultern, kurz geschorene Haare und ein freundliches, weiches Gesicht. Er sieht aus wie der nette Student von nebenan. Bis er einem auf der Matte gegenübersteht und die Kampfhaltung einnimmt. Diese Verwandlung fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Es ist, als ob er einen Schalter umlegt. Sofort umgibt ihn eine Aura von Autorität und Entschlossenheit, die ihn zu dem Kampfsportler macht, der er ist. Er besitzt mehrere Gürtel in verschiedenen Kampfsportarten und hat unzählige Preise gewonnen.

Ich lernte Liam letztes Jahr kennen, als ich mein Studium in Los Angeles begann. Auf der Suche nach einer Trainingsmöglichkeit stieß ich auf einen Flyer. Ziemlich unscheinbar, aber im Grunde genau das, was ich suchte. Eine kleine, familiäre Kampfsportschule, in der es um korrekte Techniken und weniger um Show und Action geht. Liam gibt mir Privatstunden, die ich sehr gut bezahle. Das heißt aber nicht, dass er mich schont. Ganz im Gegenteil. Ich habe ihm nicht gesagt, warum ich das alles lernen will. Aber er hat schnell gemerkt, dass es mir sehr ernst ist und ich keine Spielereien will. Alles in allem hatten wir bisher nur fünf Trainingseinheiten, den heutigen Tag mit eingerechnet. Und trotzdem habe ich mehr gelernt als bei manch anderem Trainer in mehreren Wochen.

»Konzentration, Ivete!«, ruft er mir heute zum gefühlten hundertsten Mal zu, und langsam schwingt Ungeduld in seiner Stimme mit. Sonst ist er die Ruhe selbst. Nichts scheint ihn aus der Ruhe bringen zu können. Doch heute habe ich das Gefühl, die Grenze seiner Geduld erreicht zu haben.

Seit einer Stunde trainieren wir nun schon auf der Matte. Und normalerweise fällt es mir nicht schwer, mich zu konzentrieren und bei der Sache zu sein. Heute ist das anders. Jeder Schritt, den ich mache, fällt mir schwer. Es ist, als würde ich gegen eine unsichtbare Wand kämpfen und nicht gegen meinen Trainer. Meine Bewegungen sind zu unpräzise, meine Reaktionen zu langsam. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich schon auf der Matte gelandet bin. Morgen werde ich überall blaue Flecken haben, das weiß ich jetzt schon.

Aber mein Kopf ist nicht da, wo er sein sollte. Ich spüre immer noch die Wut in mir, die durch das gestrige Gespräch mit Peter entstanden ist. Wut auf ... ich kann es nicht genau definieren. Auf ihn? Weil er mir seit zwei Wochen aus dem Weg geht und mir nichts von dem Kuss erzählt hat? Auf mich? Weil mir plötzlich Dinge durch den Kopf gehen, die einfach nicht sein dürfen? Zum Beispiel dieses Bedauern, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann? Und die Frage, wie sich der Kuss wohl angefühlt hat?

Was ich nicht mehr weiß, habe ich nie getan.

Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, ihm diesen idiotischen Satz an den Kopf zu werfen. Das ist doch Blödsinn! Natürlich hat das eine Bedeutung! Natürlich kann ich das nicht einfach abhaken und so tun, als wäre es nie passiert. Nicht jetzt, wo ich weiß, worum es geht.

Verdammt, ich habe Peter geküsst! Und damit meinen Freund betrogen! Egal, ob ich Herrin meiner Sinne war oder nicht.

Eine Faust rast auf mich zu und instinktiv reiße ich die Arme hoch, um den Schlag abzuwehren. Nur mit Mühe pariere ich den nächsten Angriff und werfe mich im letzten Moment zur Seite. Sofort bin ich wieder auf den Beinen, doch Liam ist schneller. Im Nu ist er bei mir und drängt mich mit gezielten Schlägen und Tritten weiter zurück. Einen nach dem anderen wehre ich ab, versuche dabei, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Unbekannter Gegner (Drei Fragezeichen Fanfiction)Onde histórias criam vida. Descubra agora