Kapitel 103

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Am nächsten Nachmittag traf ich mich mit Toni. Wir saßen vor einem Café in Zehlendorf, nicht weit entfernt von dem Haus unserer Eltern. Leider war das irgendwie in der Mitte zwischen meiner Wohnung in Friedrichshain und Tonis in Potsdam.

„Tizian sagt danke", meinte ich und lehnte mich im Stuhl zurück, hielt mein Gesicht in die Sonne. Toni trank einen Schluck Kaffee und nickte. „Freut mich, dass ich helfen konnte".
Wir waren kurz still.
"Wie gehts dir?", fragte mein Bruder dann und sah mich ehrlich interessiert an. Er musterte mich mit einem Blick, der sanft war, aber auch fordernd.
Ich zuckte mit den Achseln. Die Antwort darauf war gar nicht so leicht. "Körperlich gut", meinte ich. Und schloss meine Augen erneut, das Licht tanzte über meine geschlossenen Lider. Ich wollte Toni nicht ansehen. Ich wollte ihm nicht in die Augen schauen, weil dann würden wir über unsere Eltern sprechen. Anlügen konnte ich ihn aber auch nicht, also ließ ich den Satz unvollständig in der Luft hängen. Toni holte uns im Café an der Theke jeweils ein Stück Kuchen. Es schmeckte wundervoll und wir sprachen dabei über dies und das. Als mein Bruder seine Gabel beiseite legte, meinte er aber dann doch: „Und, rufst du sie mal an?". Ich atmete tief ein und aus. Nicht wütend, eher überfragt. „Vielleicht".

„Ich hab ihnen gesagt, dass sie sich bei dir melden sollen. Ich kann nicht glauben, dass sie so stur sind". Ich verdrehte die Augen. „Halt dich da besser raus", murmelte ich. „Sonst bist du auch bald enterbt. Und wäre doch schade um das Haus". Toni schnaubte amüsiert. „Ich hoffe, dass ihr euch wieder vertragt. Ich weiß, dass der Ball bei Mama und Papa liegt, aber vielleicht kannst du ihnen ja die Hand reichen". Ich sah ihn zweifelnd an. Ich würde das gern. Ich vermisste sie. Aber ich war so enttäuscht und konnte einfach nicht über meinen Schatten springen und meinen Stolz herunterschlucken.

„Ich geh gleich vorbei", sagte Toni dann ernst. Normalerweise hätte ich mir jetzt eine Zigarette gedreht.

„Grüß nicht von mir", entgegnete ich.

„Komm doch mit".

„Warum ist dir das so wichtig?".

Mein Bruder zögerte und sah mich anschließend liebevoll an, als er sprach. „Ich weiß, wie es ist, wenn das Kind auf der Welt ist. Und ich kenn dich, Skara. Du wirst sie dabei haben wollen".
Ich wusste, dass er recht hatte. Dennoch schüttelte ich den Kopf.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.
"Außerdem", sagte er dann noch zögerlich und beinahe kleinlaut. "hoffe ich, dass du dann hier bleibst. Wenn ihr euch vertragt, meine ich".

Ich versuchte den Kloß herunterzuschlucken. Wie eine zu große Kopfschmerztablette. Ich sah Toni überrascht an. "Wie meinst du das?".
Er seufzte und winkte den Kellner heran, um zu zahlen. Er wollte offensichtlich nicht weiter sprechen.
Er hielt sein Handy auf das Kartenlesegerät, lud mich ein und dankte dem jungen Mann mit einem Lächeln und einem ordentlichen Trinkgeld.
Wir standen vom Tisch auf und liefen die Straße schweigsam entlang.
"Ich hoffe, dass du dann nicht nach Wien gehst", meinte er irgendwann. Ich blieb stehen.
"Ich kann nicht leugnen, dass das einen Einfluss auf meine Entscheidung hat", antwortete ich ihm ehrlich.
Wir gingen weiter und Toni bog in die Straße ab, in der wir aufgewachsen waren. Ich folgte ihm zögerlich. Ging mit ihm, bis er vor dem Gartentor stehen blieb. Er blickte mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf, lief aber nicht weiter.
In mir kämpften die Gefühle. Ich wollte hinein gehen, wollte vergessen, was passiert war, so tun als sei alles wie davor. Aber ich konnte es nicht. Ich war so wütend, so enttäuscht, so traurig.
"Machs gut", sagte ich zu meinem Bruder und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
"Bis bald, Skara".

An der S-Bahn-Station weinte ich und es war mir peinlich.
Ich wischte mir mit den Fingern unter den Augen entlang und sah dann auf meine schwarzen Fingerkuppen. Die Mascara hatte sich sicher mittlerweile in meinem halben Gesicht verteilt.
Ich versuchte mich zu beruhigen und als die Bahn einfuhr, stieg ich nicht ein.
Wie versteinert stand ich am Gleis. Ich zog mein Handy aus der Tasche und suchte Evys Kontakt. Meine Finger schwebten über dem Hörer-Symbol.
Mein Herz würde brechen, wenn mein Kind irgendwann lieber die Mutter eines anderen anrief, als mich. Aber die Entwicklung war nicht neu. Seit ich sechzehn war, holte ich mir Ratschläge eher bei Henrys Mama, als bei meiner eigenen. Ich brachte es nicht über mich und steckte das Handy weg. Als ich aufsah, blieb mein Blick an einer jungen Frau hängen. Sie kam gerade die Treppe hinunter.
Alma.
Wir waren Freundinnen gewesen. Von der Grundschule bis zur zehnten Klasse. Sie wuchs in meiner Parallelstraße auf und wir verbrachten einige Jahre lang, beinahe jeden Tag miteinander. Als wir sechzehn waren, zerbrach die Freundschaft und wurde nie wieder wie vorher. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Schulzeit und mein Magen krampfte sich zusammen.
Es war nicht ungewöhnlich, sie hier zu sehen. Ihre Eltern lebten, ebenso wie meine, noch in Zehlendorf. Doch das Timing war schrecklich, denn der Tag, als Alma und ich keine Freundinnen mehr waren, war der Tag, an dem ich meine Mutter irgendwie mit Evy ersetzte. Denn bei Evy konnte ich alles sagen.
Meine Gedanken rasten über zehn Jahre zurück. Zurück zu einem ebenso warmen Frühlingstag wie heute, zurück zu ebenso tränennassen Wangen, wie ich auch gerade hatte und zurück zu den Menschen, die auch jetzt noch für mich da waren.

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⏰ Last updated: Mar 23 ⏰

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