Kapitel 82

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Als ich heim kam, war es später Nachmittag.
Henry hatte mir eine Nachricht geschrieben und mich gebeten, mir Zeit für ein Gespräch zu nehmen.
Ich hatte sofort zugestimmt, aber nervös war ich dennoch. Mein Herz klopfte und mein Magen rebellierte.
Beim Aufschließen der Wohnungstür fiel mir zwei mal der Schlüssel aus der Hand, dann zog ich mir fahrig Schuhe und Jacke aus. Ich zitterte.
Henry kam aus seinem Zimmer, vermutlich hatte er mich gehört.
Sein Blick war neutral und er begrüßte mich nicht, sondern ging direkt in die Küche.
Ich schluckte.
Unsicher folgte ich ihm, er hatte sich an den Tisch gesetzt.
Ich atmete tief ein und aus, um mich zu beruhigen.
Vielleicht wars das jetzt. Er würde so enttäuscht sein und es wäre sein gutes Recht.
Ob ich ihm wohl solch eine Lüge verzeihen könnte?
Ich hatte sein Vertrauen missbraucht und ihm ins Gesicht gelogen. Ich hatte es zwar für ihn getan, aber das änderte wohl wenig.

Ich setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber und versuchte ihm in die Augen zu sehen.
Henrys Blick war immer noch kühl. Ich biss fest die Zähne aufeinander.
Es war unangenehm still in der Wohnung - ohrenbetäubend still.
Doch dann durchbrach Henry die Ruhe und ich sehnte mich augenblick nach ihr zurück.
"Wann wolltest du es mir sagen?", fragte er. Seine Stimme war fest. Zorn schwang mit. Zorn und Enttäuschung.
Ich zwang mich nicht wegzuschauen. Ich wollte ihn ansehen und es ihm erklären.
So viele Male hatte ich mir Sätze zurechtgelegt, die ich sagen wollte, wenn es so weit war. Doch nun herrschte in meinem Kopf gähnende Leere.
"Wann wolltest du es mir sagen, Skara?". Er wiederholte seine Frage laut und ich hörte, dass er frustriert war.
Ich zuckte zusammen und unterdrückte ein Wimmern. Ich hatte kein Recht.
Er wusste es und ich hatte nichts gesagt.
"Ich", begann ich und stockte.
Henry schien sich mittlerweile stark beherrschen zu müssen. Ich sah, wie sich sein Kiefer anspannte, seine Hände waren zu Fäusten geballt.
Henry war selten so richtig wütend, doch jetzt sah ich es in seinen Augen aufblitzen.
Aber viel schlimmer war, dass ich außerdem sah, wie verletzt er war.
Mein Herz tat weh.

"Ich weiß es nicht", antwortete ich ehrlich.
Bevor er etwas sagen konnte, redete ich weiter: "Henry, es tut mir so leid. Ich weiß, dass ich unglaublichen Mist gebaut habe. Ich hätte dich nicht anlügen dürfen, ich hätte es nicht vor dir verheimlichen dürfen. Aber Wien ... Du hast gesagt, wie wichtig es für dich ist und wie sehr du dort hin willst und auch musst", er unterbrach mich unwirsch: "Wag es nicht mir die Schuld zu geben".
Tränen traten mir in die Augen.
Henry stand energisch auf und lief wütend im Raum auf und ab.
"Wie hast du dir das vorgestellt?", rief er. "Wie wolltest du es vor mir verheimlichen? Du bist schwanger mit unserem Kind! Wir wohnen zusammen! Hast du geglaubt, dass ich es bis zum Sommer nicht mitbekommen würde?", er sah mich fassungslos an und gestikulierte frustriert in meine Richtung, dann stockte er plötzlich und wurde auf einmal ganz leise: "Oder wolltest du etwa", begann er und ließ sich auf den Stuhl neben mir sinken. "Wolltest du es abtreiben, ohne mit etwas zu sagen?", flüsterte er beinahe ängstlich.

Ich blieb zunächst stumm. Ich hatte mir zwar eingeredet, dass das tatsächlich eine Möglichkeit wäre, aber es mir selbst wohl nie geglaubt. Ich hätte das weder Henry, noch unserer Verbindung zueinander antun können.
"Ich habe schon ab und an gedacht, dass es vielleicht die beste Lösung wäre", begann ich dann. "Aber gekonnt hätte ich es nicht. Und ich hätte es auch nicht gewollt."
Henrys Augen glänzten verdächtig.
"Ich weiß, dass das deine Entscheidung ist und ich werde dich natürlich zu nichts drängen, aber", er stockte und sah mich an. Sein Blick traf mich irgendwo ganz tief drin.
"Du bist schwanger mit unserem Kind", wiederholte er dann. So leise, dass ich es kaum gehört hatte und so zärtlich, dass mir Tränen in die Augen traten.
Ich schluckte.
"Ich hätte dich nicht ausschließen dürfen", gab ich zu und schlang fröstelnd die Arme um meinen Oberkörper. Das emotionale Chaos und die rasenden Gedanken ließen meinen Kreislauf verrückt spielen. Mir war plötzlich eiskalt.
Ich wusste, dass Henry jedes Recht dazu hatte, wütend zu sein. Das durfte er auch sein, auch für eine ganze Weile. Ich konnte das aushalten. Angst machte mir allerdings, dass ich nicht sicher war, ob er mir überhaupt verzeihen würde.

"Was kann ich tun, Henry?", fragte ich deshalb.
Er schwieg.
Seinen Blick hatte er abgewendet und fokussierte gedankenverloren seine ineinander verschränkten Hände.
Ich nahm allen Mut zusammen und legte meine Hand auf seine.
Mein Herz sank, als er sie wegzog.
Er zog sie weg, fuhr sich über die raspelkurzen Haare, über sein Gesicht und seufzte.
Dann nahm er meine Hand erneut in seine.
Ich atmete aus.
"Ich weiß es nicht", sagte er ehrlich.
Ich sammelte meine Gedanken und versuchte nun alles richtig zu machen: "Ich verstehe, dass du enttäuscht bist und sauer und verletzt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich fühlst und ich möchte nichts relativieren, aber ich mag, dass du weißt, dass ich eine scheiss Angst habe. Ich hab so Angst, dass ich mich wie gelähmt fühle. Wenn du bereit bist, es zu hören, dann würde ich dir gern erklären, warum ich nichts gesagt habe. Vielleicht kannst du es verstehen".
Henry sah mich aufmerksam an. Sogar in diesem Moment schaffte er es, mir geduldig zu zuhören und mir das Gefühl zu geben, dass er mich immer verstehen würde.
Er war so gut zu mir und ich so furchtbar zu ihm.
"Okay", sagte er. "Erklär es mir".
Und das tat ich.

Ich erzählte von dem Moment, als ich den Test ungesehen in meine Hosentasche gesteckt und ihm gesagt hatte, dass er negativ sei. Ich erzählte von der Angst, die mich gepackt hatte, als ich herausfand, dass er (ebenso wie der darauf) positiv war. Ich teilte mit ihm mein Gefühlschaos, die Verwirrung, die ständig wechselnde Meinung, ob ich es behalten sollte, ob ich es ihm sagen sollte, ob ich es schaffen könnte, mit dem Ergebnis und der Entscheidung zu leben.
Henry schwieg. Und als ich endlich meinen Monolog beendet hatte, sagte er noch immer nichts.
Raphi kam nach Hause und ich stand eilig vom Küchenstuhl auf. Ich hatte keine Kraft mehr übrig und konnte gerade niemandem mehr sehen, mein verheultes Gesicht erklären oder ein Lächeln aufsetzen, was sagt "Alles gut, mein Leben geht gerade gar nicht den Bach runter".
"Hey", sagte er. Ich sagte auch "Hey" und verschwand in meinem Zimmer.

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