Kapitel 44

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„Skara, reichst du mir mal den Salat?", die Stimme meines Bruders holte mich aus meinen Gedanken und ich blinzelte ihn verwirrt an. „Den Salat", wiederholte er schmunzelnd und zeigte auf die große Glasschüssel, die zwischen der vielen weiteren Schalen und Teller auf dem geschmückten Tisch stand. Es war Weihnachten, Heiligabend. Der Tannenbaum in der Ecke war festlich geschmückt, es lief leise besinnliche Musik und meine Familie war zusammengekommen. Ich reichte meinem Bruder den Salat und versuchte meine Gedanken wieder den Gesprächen am Tisch zuzuwenden. Es war laut, weil alle durcheinander redeten und ich hatte irgendwie bei jedem Gespräch den Anfang verpasst und konnte nicht mehr wirklich einsteigen. Mein Bruder sprach mit meiner Mutter und Charlotte, mein Vater war in ein Gespräch mit meinem Opa vertieft, meine Oma und mein Onkel diskutierten und ich schwieg. Ich sah zu der kleinen Ella, die auf dem Schoß meines Bruders auf und ab gewippt wurde und von meiner Mutter mit Komplimenten übersäht wurde. Ich war ein wenig neidisch auf sie. „Und Skara, was macht die Uni, biste bald fertig?", fragte mein Onkel Ralf plötzlich und ich sah ihn ein wenig genervt an. Gab es irgendeine Frage, die eine Studentin mehr aufregte? „Ne", sagte ich nur und mein Vater sah mich streng an. „Was willste denn eigentlich mit diesem Kunst und Kultur Kram mal machen?", fragte Ralf dann weiter und gab sich nicht einmal Mühe den abwertenden Unterton in seiner Stimme zu verbergen. Ich verdrehte die Augen, doch Ralf sah es nicht, denn er hatte die Augen auf seinen Teller gerichtet. „Weiß nicht Ralf, ich dachte ich lass das einfach auf mich zukommen", antwortet ich und grinste, weil ich wusste, dass Ralf genauso eine Antwort brauchte, um weiter zu reden. „Auf dich zukommen lassen? Was richtiges musste lernen, so wie der Toni oder der Maximilian", ereiferte er sich und zeigte auf meinen Bruder. Toni arbeitete in Potsdam an der juristischen Fakultät und mein Cousin Max machte gerade sein praktisches Jahr am Uni Klinikum in München. Ralf bildete sich mächtig was darauf ein, dass sein Sohn in seine Fußstapfen trat und auch Arzt wurde. Diese Akademikerfamilie kotzte mich an. Ich musste an Henry denken und welche anderen Gespräche er gerade sicherlich mit seiner Familie führte. Ich antwortete Ralf nicht, doch er redete natürlich trotzdem weiter. Ich sah meine Mutter auffordernd an, damit sie ihren Bruder zum Schweigen brachte.
Es war nicht von langer Dauer, dann fing er an Charlotte zu fragen, ob sie denn auch jetzt erstmal Zuhause bei Ella blieb und als mein Bruder meinte, dass er auch in Elternzeit gehen würde, schüttelte Ralf fassungslos den Kopf.
Manchmal glaubte ich, dass ich unterschätzte, wie schwer es war, wenn man aus so einer durchschnittlich liberalen Familie kam, wie meiner. Ich brauchte nicht diesen allumfassenden Befreiungsschlag, wie die Menschen, die ich kannte, welche aus zutiefst konservativen Familien kamen, aber irgendwie passte ich trotzdem mit so vielen meiner Ansichten nicht ganz hinein. Das merkte ich immer wieder und fühlte mich frustriert. An Feiertagen summierte sich das und ich begann im Laufe des Abends einen Spießrutenlauf zu führen. Meine Großeltern fragten, ob ich denn einen Freund hatte, mein Vater fragte mich, wie es in meiner WG lief und ob ich es immer noch gut fände mit zwei Männern zusammen zu wohnen. Meine Mutter erzählte von Frieder (Was hatte sie nur für eine Obsession mit diesem Typen?) und Ralf, ja Ralf hatte natürlich zu allem eine Meinung und immer was zu sagen. Irgendwann rette Toni mich, in dem er mich fragte, ob ich ihm half für alle After-Dinner-Drinks und das Dessert vorzubereiten und ich stimmte dankbar zu.
„Und wie fühlt man sich so im Kreuzverhör?", fragte er grinsend und ich atmete hörbar aus. „Was ist denn heute mit allen los? Wird das immer schlimmer oder ich genervter?".
Toni lehnte sich an die Küchenablage und sah mich nachdenklich an. „Ich glaube du wirst einfach älter und sie erwarten etwas anderes von dir, als du ihnen gibst".
„Aber ich trage doch nicht die Verantwortung für die Erwartungen, die sie an mich stellen", murmelte ich und kramte im Tiefkühlschrank nach den Eiswürfeln. „Natürlich nicht", sagte Toni. „Aber ich glaube sie würden nachts besser schlafen, wenn du Architektur studiert und dich mit Frieder verlobt hättest".
Ich lachte laut auf. „Himmel! Ich hab echt mal geglaubt, dass ich so glücklich werden würde". Bei dem Gedanken daran schüttelte ich über mich selbst den Kopf. 

Trotzallem vergingen die Weihnachtsfeiertage weitestgehend friedlich und ich genoss die Zeit, die ich mit meiner Familie verbrachte. Am 2. Weihnachtsfeiertag war der Dauerregend, der in Berlin Einzug gehalten hatte, tatsächlich zu matschigem Schnee geworden, der gerade so lange liegen blieb, dass ich es schaffte mit Ella einen winzigen Schneemann zu bauen. Onkel Ralf hatte uns nicht mehr beehrt, denn er war zu seiner Exfrau und Max nach München gefahren. Mein Bruder und Charlotte machten sich nun bereit, um zurück nach Potsdam zu fahren. Sie hatten die Feiertage, ebenso wie ich, im Haus meiner Eltern übernachtet. Sie warfen mich auf dem Weg am Bahnhof raus und so fuhr auch ich zurück in meine WG. Henry war mit seiner Familie noch bei Vera und würde erst morgen, am 28., wiederkommen. Raphi war auch noch nicht zurück. Er war bis kurz vor Silvester in Portugal bei seiner Verwandtschaft. In der Bahn holte ich mein Handy raus und schrieb Mel.

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